Buddenbrooks
Erdboden hervorgekommen oder vom Himmel gefallen und ist überall zugleich. Es giebt keinen Widerspruch. Es ist entschieden. Hagenström! – Ja, ja, er ist es nun also. Da ist nichts mehr zu erwarten. Die Dame im Schleier hätte es vorher wissen können. So geht es immer im Leben. Man kann nun ganz einfach nach Hause gehen. Sie fühlt, wie das Weinen in ihr aufsteigt …
Und kaum hat dieser Zustand eine Sekunde lang gedauert, als ein plötzlicher Stoß, eine ruckartige Bewegung durch die ganze Menschenansammlung geht, ein Schub, der sich von vorn nach hinten fortsetzt und die Vorderen gegen ihre Hintermänner lehnt, während zu gleicher Zeit dort hinten im Portale etwas Hellrotes aufblitzt … Die roten Röcke der beiden Ratsdiener, Kaspersen und Uhlefeldt, welche in Gala, mit Dreispitz, weißen Reithosen, gelben Stulpen und Galanteriedegen, Seite an Seite erscheinen und durch die zurückweichende Menge hindurch ihren Weg gehen.
Sie gehen wie das Schicksal: ernst, stumm, verschlossen, ohne nach rechts oder links zu sehen, mit gesenkten Augen … und schlagen mit unerbittlicher Entschiedenheit die Richtung ein, die ihnen das Ergebnis der Wahl, von dem sie unterrichtet sind, gewiesen hat. Und es ist
nicht
die Richtung der Sandstraße, sondern sie gehen nach rechts die Breitestraße hinunter!
Die Dame im Schleier traut ihren Augen nicht. Aber rings um sie her sieht man es gleich ihr. Die Leute schieben sich in eben derselben Richtung den Ratsdienern nach, sie sagen einander: »Nee, nee, Buddenbrook! nich Hagenström!« … und schon kommen in angeregten Gesprächen allerlei Herren aus dem Portale, biegen um und gehen geschwinden Schrittes die Breitestraße hinunter, um die ersten bei der Gratulation zu sein.
Da nimmt die Dame ihren Abendmantel zusammen und läuft davon. Sie läuft, wie eine Dame sonst eigentlich nicht {459} läuft. Ihr Schleier verschiebt sich und läßt ihr erhitztes Gesicht sehen; aber das ist gleichgültig. Und obgleich einer ihrer pelzbesetzten Überschuhe in dem wässerigen Schnee beständig ausschlappt und sie in der boshaftesten Weise behindert, überholt sie alle Welt. Sie erreicht zuerst das Eckhaus an der Bäkkergrube, sie schellt am Windfang Feuer und Mordio, sie ruft dem öffnenden Mädchen zu: »Sie kommen, Kathrin, sie kommen!« sie nimmt die Treppe, stürmt droben ins Wohnzimmer, woselbst ihr Bruder, der wahrhaftig ein bißchen bleich ist, die Zeitung beiseite legt und ihr eine etwas abwehrende Handbewegung entgegen macht … sie umarmt ihn und wiederholt:
»Sie kommen, Tom, sie kommen! Du bist es, und Hermann Hagenström ist durchgefallen!«
*
Das war ein Freitag. Schon am folgenden Tage stand Senator Buddenbrook im Ratssaale vor dem Stuhle des verstorbenen James Möllendorpf, und in Gegenwart der versammelten Väter sowie des Bürgerausschusses leistete er diesen Eid:
»Ich will meinem Amte gewissenhaft vorstehen, das Wohl des Staates nach allen meinen Kräften erstreben, die Verfassung desselben getreu befolgen, das öffentliche Gut redlich verwalten und bei meiner Amtsführung, namentlich auch bei allen Wahlen, weder auf eigenen Vorteil noch auf Verwandtschaft oder Freundschaft Rücksicht nehmen. Ich will die Gesetze des Staates handhaben und Gerechtigkeit üben gegen jeden, er sei reich oder arm. Ich will auch verschwiegen sein in allem, was Verschwiegenheit erfordert, besonders aber will ich geheimhalten, was geheim zu halten mir geboten wird. So wahr mir Gott helfe!«
{460} 5.
Unsere Wünsche und Unternehmungen gehen aus gewissen Bedürfnissen unserer Nerven hervor, die mit Worten schwer zu bestimmen sind. Das, was man Thomas Buddenbrooks »Eitelkeit« nannte, die Sorgfalt, die er seinem Äußeren zuwandte, der Luxus, den er mit seiner Toilette trieb, war in Wirklichkeit etwas gründlich Anderes. Es war ursprünglich um nichts mehr, als das Bestreben eines Menschen der Aktion, sich vom Kopf bis zur Zehe stets jener Korrektheit und Intaktheit bewußt zu sein, die Haltung giebt. Die Anforderungen aber wuchsen, die er selbst und die Leute an seine Begabung und seine Kräfte stellten. Er war mit privaten und öffentlichen Pflichten überhäuft. Bei der »Ratssetzung«, der Verteilung der Ämter an die Mitglieder des Senates, war ihm als Hauptressort das Steuerwesen zugefallen. Aber auch Eisenbahn-, Zoll- und andere staatliche Geschäfte nahmen ihn in Anspruch, und in tausend Sitzungen von Verwaltungs- und Aufsichtsräten, in denen ihm seit seiner Wahl das Präsidium
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