Buerger, ohne Arbeit
nur in der unmittelbaren Gegenwart, sondern auch in der vorgestellten Zukunft. Die moderne Lohnarbeitsgesellschaft
vom ausgehenden neunzehnten Jahrhundert bis in die 1970er Jahre war ganz in diesem Sinne eine Gesellschaft mit hoher sozialer
Interdependenz. Noch im Übergang zur postindustriellen Gesellschaft erfuhr die soziologische Diagnose »wachsender gegenseitiger
Abhängigkeit« mit der logischen Konsequenz der »Eingliederung benachteiligter Gruppen
in
die Gesellschaft« die ungeteilte Zustimmung der Fachwelt. 322 Die Zivilisierung der sozialen Umgangsformen, die respektvolle Wahrnehmung und Behandlung der lohnarbeitenden Mehrheit durch
die organisierte Unternehmerschaft vollzog sich in diesem kooperativen Klima.
Seither beobachten wir eine gegenläufige Entwicklung, eine Entwicklung hin zur Dezivilisierung der sozialen Verkehrsverhältnisse,
zum einseitigen Abbruch der Verbindlichkeiten, zur Verweigerung des Respekts nach unten. Der von geographischen Grenzen und
sozialen Hemmungen sich losreißende Marktmechanismus untergrub die beiden Grundpfeiler des gesellschaftlichen Zusammenhalts,
die auf Gegenseitigkeit und Langfristigkeit angelegte Kooperation der Großgruppen. Je mehr deklassierte und überflüssige Menschen
das System produziert, je gebieterischer der Druck ist, den diese Dauerreservisten auf die noch Beschäftigten ausüben, desto
unentrinnbarer wird ihrer aller Abhängigkeit von den Eliten, desto geringer, auf der anderen Seite, deren Angewiesensein auf
die neue Unterschicht. Das soziale Klima wird rauher, und die zivilisatorischen Verhaltensstandards lockern sich. Die einen
müssen sich mehr Zwänge auferlegen, die anderen nehmen sich mehr Freiheiten heraus. Die aufsteigenden Abhängigkeiten verfestigen
sich bis zur ausweglosen Bindung des Arbeitnehmers an »seinen« Arbeitgeber, und im selben Zuge nähern sich die absteigenden
Abhängigkeiten der sozialen Indifferenz früherer Zeiten an. Wenn, des weiteren, gesicherte Beschäftigungsverhältnisse |287| zunehmend prekären weichen, wenn Arbeit im großen Maßstab zum Job wird, den man heute ergattert und morgen verliert, fällt
es schwer, gegenwärtige Verpflichtungen auf die Zukunft zu projizieren. An die Stelle verinnerlichter Loyalitäten treten inszenierte.
Beide Prozesse, die immer einseitiger sich gestaltenden Abhängigkeiten sowie die immer kurzfristiger ausfallenden Kooperationsspannen,
zehren die kulturelle Mitgift des Gegenwartskapitalismus – Arbeitsethos, Zukunftsorientierung, Verantwortungsgefühl über die
Klassenschranken hinweg – ersatzlos auf.
9. Was die Berufung auf den Respekt übersieht: Gerechtigkeit in der demokratischen Massengesellschaft ist im Kern INSTITUTIONELLE
Gerechtigkeit. Rechts-, Prozeß- und Verfahrensordnungen, Gerichte, die über deren Einhaltung wachen und von jedermann angerufen
werden können: Auch das gehört zu den harten Tatsachen. Institutionelle Gerechtigkeit ist ihrem Wesen nach paradox wie ihr
Zwilling, die Gleichheit: Je besser sie ihre Aufgaben erfüllt, desto sensibler reagiert das öffentliche Bewußtsein auf Ungerechtigkeiten,
desto mehr »Opfer« melden sich zu Wort und beschäftigen die juristischen Instanzen. 323 Das ist mitunter lästig, aber die Alternative dazu wäre es erst recht. Sie bestünde darin, Menschen den Sinn für Ungerechtigkeit
abzusprechen, sie daran zu hindern, jederzeit sagen zu können, daß sie in ihrer Würde verletzt, um ihre Ansprüche betrogen
worden sind.
Gerechtigkeit ist doppelt da, als Rechtsnorm und als Ungerechtigkeitsempfinden, als TEXT und UMSCHRIFT. In jedem gegebenen
Augenblick bestimmt die Rechtsnorm, ob einem wirklich Unbill widerfuhr oder nur Pech; auf lange Sicht folgt das Recht Veränderungen
im sozialmoralischen Standard der Gesellschaft, ist es die Umschrift, die den Text diktiert. Der gültige Sinn für Ungerechtigkeit
gehört immer denen, die sich mit ihrer Klage durchsetzen und die eingelebte Rechtspraxis für alle verbindlich revidieren. 324 – Sich taub stellen gegen die Sirenengesänge der Ungerechtigkeit: erste Klugheitsregel derer, die vom Recht als Vorrecht
profitieren. |288| 10. »DIE ARBEITER-FRAGE. – Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache ALLER Dummheit ist, liegt
darin, dass es eine Arbeiter-Frage giebt. Über gewisse Dinge FRAGT MAN NICHT: erster Imperativ des Instinktes. – Ich sehe
durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen
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