Buerger, ohne Arbeit
befriedigen, gelingen – sofern es sich nicht töricht mit Vergleichen plagt, die nur Enttäuschungen heraufbeschwören.
»Das Übel, dass manche Menschen ein schlechtes Leben führen, entsteht nicht dadurch, dass andere Menschen ein besseres Leben
führen. Das Übel liegt einfach in der unverkennbaren Tatsache, dass schlechte Leben schlecht sind.« 309 Mit seiner Vergleichungssucht hält der Egalitarismus die Menschen von der moralischen Selbstbefragung ab, pflanzt er Maßstäbe
in sie ein, die nicht ihre eigenen sind und verleitet sie dazu, ihr Leben in Begriffen zu definieren, die vom eigenen Wesen,
den |282| je eigenen Möglichkeiten abstrahieren. Wer die Gerechtigkeit dem Ideal der Gleichheit opfert, bricht in die Selbstentfremdung
auf. Abkehr von der KOMPARATIVEN Gerechtigkeit ist die Voraussetzung zur moralischen Gesundung der einzelnen wie der Gesellschaft;
so will es der
Homo academicus
. 310
Erbärmliche Betrüger! Vergleichen, noch hinter dem Komma, gilt in jeder Gesellschaft, die auf kapitalistischer Produktionsweise
beruht, als höchste praktische Weisheit, als erstes und letztes Auskunftsmittel. Nur für die von diesem System Abhängigen
soll es Sünde, Irrtum, Selbstentfremdung sein. Sie heißt es zu bekehren: zum moralischen Monolog. Ende des Zwiegesprächs,
des Gewirrs der Stimmen, der Seitenblicke, des Auf und Ab der Augen. Was ist denn das für eine Philosophie, die Menschen verurteilt,
nur weil sie ihrer sozialen Natur Gehorsam leisten? Es ist die Philosophie entfremdeter Intellektueller, die ihre eingebildete
Erhabenheit über das Urteil der Welt zur allgemeinen Norm aufplustern, die keine größere Lust verspüren als die, sich selbst
auf den Kopf zu schauen.
4. Gerechtigkeit, der das Vergleichen ausgetrieben ist, bescheidet sich mit ANSTAND. »Anständige Gesellschaften« zeichnen
sich negativ dadurch aus, daß Menschen institutionell nicht gedemütigt werden, der gesetzestreue Bürger so wenig wie der Verbrecher;
durch die Abwesenheit unnötiger Kränkungen. 311 Die positive Fassung einer anständigen Gesellschaft geht darüber hinaus und verlangt, daß die gesellschaftlichen Institutionen
den Menschen Achtung entgegenbringen. 312 Gesellschaften sind gerecht, im weitesten, jetzt überhaupt noch denkbaren Sinn, wenn sie die unmittelbaren und weitläufigeren
Beziehungen der Menschen dem RESPEKT verpflichten. Die Menschen am Fuß der sozialen Schichtung dürften nicht länger erwarten,
unter annähernd gleiche Lebensumstände wie die über ihnen Stehenden versetzt zu werden; worauf sie ein Anrecht besitzen, ist,
in ihrer gedrückten Lage respektiert zu werden. So verschämt und kleinlaut kann sie werden, die Rede der Gerechtigkeit.
|283| 5. Richard Sennett hat sie in seinem jüngsten Buch aufgegriffen und seinem beeindruckenden Werk damit keinen guten Dienst
erwiesen. Schon die Ausgangsfrage strotzt vor Resignation: »Wie kann man die Grenzen der Ungleichheit in wechselseitigem Respekt
überschreiten?« 313 Was zu befragen, zu kritisieren wäre – die soziale Ungleichheit der Menschen –, wird als unausweichliche Konsequenz ihres
gesellschaftlichen Zusammenlebens vorausgesetzt (gab es da nicht einmal einen berühmten Text Rousseaus? 314 ). Das handzahme Restinteresse gilt der Frage, wie die Individuen beiderseits der Grenzen mit dem Faktum umgehen, wie sich
fundamental Ungleiche so human und förderlich wie irgend möglich begegnen können. Die weniger Erfolgreichen, mäßig Talentierten,
die aktuell Unterlegenen im sozialen Wettstreit mahnt der Autor, sich vor neidvollem Vergleich zu hüten und das zu tun, was
sie von sich aus können. Wer die Fähigkeiten entwickelt, die in ihm liegen, statt Vermögen nachzutrauern, die ihm versagt
sind, wahrt seine Selbstachtung auch in einer Welt der Ungleichheit. 315
Umgekehrt müssen die Stärkeren, Begabteren, Erfolgreicheren dafür Sorge tragen, daß die vom Schicksal Verprellten ihre beschränkten
Möglichkeiten auch tatsächlich ausschöpfen, daß sie noch in ihrer Hilfsbedürftigkeit die Kontrolle über ihr Leben behalten.
Institutionelle oder persönliche Herablassung, Pläne zur Verbesserung der Lebensbedingungen, von Ämtern oder Expertengremien
ersonnen, die die davon Betroffenen nicht aktiv einbeziehen, bilden Formen verletzenden Mitgefühls, verweigerten Respekts. 316
6. Angehörigen der Unterschicht derartige Demütigungen zu ersparen ist eine sinnvolle, weil weithin unerfüllte
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