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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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Gesellschaften, in denen Menschen Zweck der Übung sind. 331 Das Argument des Mit-stimmen- und Mitentscheiden-Könnens jedes einzelnen Gesellschaftsmitglieds reguliert alle anderen Gerechtigkeitsdiskurse.
    Haushaltssanierung, Beschneidung konsumtiver Staatsausgaben, Verteilung knapper Ressourcen, Teilen ins Weniger, all dies untersteht
     zwei Bedingungen: Alle haben ein Recht darauf, vor dem Vollzug dieser Prozesse gehört zu werden, niemand darf sich in ihrem
     Ergebnis in Armut wiederfinden, und zwar nicht aus philanthropischen Erwägungen, sondern weil sich Armut durch den Mangel
     an fundamentalen Verwirklichungschancen, durch sozialen Ausschluß zu erkennen gibt. »Reformen«, die auch nur gegen eine dieser
     Bedingungen verstoßen, verwischen den Grundriß der sozialen Demokratie. Sie begründen ein Widerstandsrecht, das seine Legitimation
     aus dem Kampf gegen die Auflösung der Gesellschaft bezieht. Bedenkt, ihr Lobredner der Teilhabe, die Konsequenzen eures Lockrufs:
     Partizipation, die nicht mehr partizipieren darf, wird militant!
    3. »Unterschiede positiv zu würdigen«, so lautet das Lernziel der neuen Gerechtigkeit. Was kommt ihm gesellschaftlich entgegen?
     Welche sozialen Differenzen lassen sich im |291| demokratischen Wohlfahrtsstaat rechtfertigen, im Einklang mit seinen drei Grundbestimmungen: keine Armen, Mitwirkung aller
     am Gemeinwesen, Kreuzung der sozialen Kreise? Eine philosophische Antwort auf diese Fragen würde die deduktive Methode bevorzugen,
     Axiome der Gerechtigkeit postulieren und von ihnen ausgehend die Phänomene ordnen. Für eine Erfahrungswissenschaft wie die
     Soziologie scheidet dieses Verfahren aus. Statt der berühmten Zwillinge mit völlig identischer natürlicher Ausstattung und
     gleichen sozialen Ausgangsbedingungen 332 rechnet sie mit Durchschnittsexistenzen. Sie läßt sich vom Urteilsvermögen gewöhnlicher Akteure leiten, und wenn sie deren
     Urteile analysiert und systematisiert, dann anhand jener Kriterien, die diese selbst verwenden, wenn auch implizit.
    Gemäß dieser induktiven Methode sind soziale Unterschiede dann »gerechtfertigt«, wenn sich in der Gesellschaft kein lauter
     und verbreiteter Widerspruch gegen sie erhebt; stillschweigende Duldung genügt. Einander widersprechende Urteile gelten dabei
     nicht als Mangel. Sie gehorchen der Logik des praktischen Sinns, der sich in Widersprüchen herumtreibt, dieselben Unterschiede
     in einem Kontext anerkennt, in einem anderen verwirft. 333 – Der Soziologe würde seine Aufgabe verfehlen, wollte er diese Widersprüche glätten, der »logischen Logik« unterwerfen. Er
     vollzieht sie vielmehr nach, um jene Umschlagspunkte zu erfassen, an denen die Alltagserfahrung über sich hinausgetrieben
     wird, einen Standpunkt verläßt und einen anderen einnimmt. Die folgende Klassifikation alltäglicher Urteile über soziale Differenzen
     entspringt dieser nachvollziehenden Einstellung.
    4. Das bei weitem populärste Phänomen gerechtfertigter Unterschiede hört auf den Namen LEISTUNG. Einer führt in materieller
     Hinsicht ein besseres Leben, weil er mehr leistet, das leuchtet vielen ein. Die Spannweite dieses intuitiven Arguments ist
     jedoch beträchtlich enger, als es zunächst den Anschein hat. Die Voraussetzungen, unter denen sich ein »Mehr« oder »Weniger«
     einigermaßen verläßlich ermitteln |292| lassen, sind der Zahl nach ebenso überschaubar wie in der Sache anspruchsvoll. Menschen müssen dieselbe Arbeit versehen, sie
     müssen über annähernd dieselben körperlichen und geistigen Fähigkeiten verfügen und nicht zuletzt: Die Arbeit selbst muß meßbar,
     quantifizierbar sein, und zwar auf der Ebene des einzelnen Individuums. Der Kreis jener Verrichtungen, die diesen Forderungen
     entsprechen, hat im Verlauf der zurückliegenden Jahrzehnte erheblich an Umfang abgenommen, und so verwundert es nicht, daß
     »Leistung« heute mehr denn je als Fiktion über der Welt der sozialen Differenzen schwebt. 334 Dieselbe ökonomische Philosophie, die die Leistung verherrlicht, der Postfordismus, betrog sie um die Grundlagen ihrer Vergewisserung:
     »Das habe ich und ich allein in dieser Zeit vollbracht.« Wer Unterschiede im Einkommen, im Lebensstandard mit dem Verweis
     auf die höhere oder geringere Leistung abspeist, will in neun von zehn Fällen betrügen. Was der Manager dem angelernten Arbeiter
     voraushat, ist in der Regel weder seine Einsatzbereitschaft noch die Anspannung aller Kräfte während der

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