Buerger, ohne Arbeit
Forderung (§
21.3). Die Demütigung, die aus der untergeordneten Lage selbst erwächst, bleibt davon unberührt. – Ich bemühe mich, einem
Langzeitarbeitslosen, Armen, Obdachlosen taktvoll zu begegnen, die soziale Kluft zu überbrücken, die zwischen uns besteht.
Habe ich da alles getan, |284| was die Gerechtigkeit von mir verlangt? Oder simuliere ich nur Respekt, wohl ahnend, daß der Andere mich durchschaut, der
inszenierten Gleichheit keinen Glauben schenkt? Statt ihm Verständnis, Nähe, Anteilnahme vorzugaukeln, könnte ich ihn als
das akzeptieren, was er für mich ist, als Anderen, Fremden, den ich niemals ganz verstehen kann. Das wäre die höhere Gerechtigkeit,
wie Sennett sie versteht und viele mit ihm: Den Anderen als Anderen in seiner Andersartigkeit zu respektieren, ihm fremd zu
bleiben und auch nicht zu fordern, daß er sich offenbart. Wir anerkennen uns als einzigartige, unerschöpfliche Exemplare der
Gattung Mensch, und diese Gleichheit überstimmt die Ungleichheit, ermöglicht, daß wir uns in Würde treffen und wieder trennen
können. 317 – Gleichheit, die nichts vergleicht, auf nichts hinaus will, am wenigsten auf die Veränderung der Verhältnisse, die sind
nun einmal so; Gleichheit als Gefühl der Undurchdringlichkeit und Unerschöpflichkeit des Anderen wie meiner selbst: Das ist
der große Taschenspielertrick der neuen Anstandslehrer. Die soziale Frage, eine überaus irdische Angelegenheit, verwandelt
sich in das psychologische Problem, »wie der Starke jenen Menschen mit Respekt begegnen kann, die dazu verurteilt sind, schwach
zu bleiben« 318 . – Nebenbei bemerkt, unter uns Psychologen: Das letzte Urteil über den Respekt fällen immer seine Adressaten, per Hand- oder
per Faustschlag.
7. Diese Ethisierung der Gerechtigkeit bedeutet einen Rückfall in jene Gewohnheiten, die die erste Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts beherrschten (§ 20) und deren Ursprung bis in die griechisch-römische Antike zurückreicht. Die (männlichen) Oberschichten
dieser Zeit entwickelten eine Ethik der Selbstbindung; Selbstbindung des Herren gegenüber seiner Frau, seinen Kindern, gegenüber
Schutzbefohlenen, Bediensteten und Sklaven. Als moralisch vorbildlich galt ein Verhalten, das den Rahmen des rechtlich Erlaubten
bewußt nicht ausschritt, das sich von Zurückhaltung und Augenmaß für die Schwächen der Schwächeren bestimmen |285| ließ. Ein »gerechtes« Regiment zu führen, im eigenen Haus und jenseits seiner Mauern, verlangte, mehr noch als die Kenntnis
der Gesetze, ein intaktes Gespür für das rechte Maß, für die Besonderheit der Situation sowie der Personen, mit denen man
umging; Respekt für das unter konkreten Umständen Tunliche und Geziemende. 319
Damit einher ging ein heftiger Ausfall gegen alles Förmliche, Kodifizierte, Festgelegte. Freiheit, Tugend und Schönheit korrespondierten
noch miteinander; das wirklich Gute geschah aus freien Stücken und auf eine Weise, die auch ästhetisch heiter stimmte, Leichtigkeit
verströmte, Eleganz und Ungezwungenheit. Hölderlin rühmte diesen Lebensstil als »höhere Aufklärung« und schalt seine Zeitgenossen
für deren Grobheit und Unterwürfigkeit unter abstrakte Formeln und Gesetze. 320
Rohe Sitten und Verordnungsfetischismus sind seither nicht aus der sozialen Welt verschwunden, und wenn wir uns manchmal etwas
von der Schwerelosigkeit zurückwünschen, mit dem die Alten Regeln zu gebrauchen und auszulegen wußten, liegt unsere Beunruhigung
doch auf einem anderen Punkt. Die neu entfachte Leidenschaft für einige Attribute der Gerechtigkeit, für Anstand, Takt, Respekt,
könnte dermaßen überhand nehmen, daß sie andere, gleich wesentliche, und am Ende sogar die Sache selbst verdunkelt.
8. Besinnen wir uns also auf die harten Tatsachen des Respekts. Sie fließen in einem Begriff zusammen, dem der INTERDEPENDENZ.
Interdependenz, als soziologische Kategorie, meint erstens die wechselseitige und zweitens die (zunehmend) ausgewogene Abhängigkeit
großer gesellschaftlicher Gruppen voneinander. 321 Es genügt nicht, daß oben und unten, machtstärkere und machtschwächere Formationen irgendwie zusammenhängen, im selben soziopolitischen
Raum koexistieren; das gilt noch für die am schwächsten integrierten Gemeinwesen. Die für eine bestimmte Gesellschaftsform
maßgeblichen Kollektive müssen funktional zusammenwirken, in der Verfolgung ihrer Ziele aufeinander angewiesen |286| sein, nicht
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