Buerger, ohne Arbeit
erreicht ist. Der Hang zum Vergleich gehört zur
Conditio humana
, konjugiert sich durch die gesamte Liste der Personalpronomina: Ich – Du; Ich – Er/Sie/Es; Wir – Ihr; Wir – Sie. Wer seine
Unterlegenheit den Nächsten, der Du-Welt, gegenüber eingestehen muß, mißt sich mit ferner stehenden Personen aus der Es-Welt.
Notfalls wechselt er erneut die Perspektive, springt vom Ich ins Wir, vergleicht die eigene Gruppe mit fremden Kollektiven.
Durch die Identifizierung mit einem Wir tröstet sich das Individuum oft genug über Enttäuschungen hinweg, die es im unmittelbaren
Vergleich mit konkreten anderen erlitten hat, und dasselbe gilt für die Identifizierung einer kleineren Wir-Gruppe (Schicht,
Klasse) mit einer umfassenderen (Staat, Nation). Mit der Übertragung auf immer komplexere, abstraktere Bezugseinheiten gewinnt
der Hang zum Vergleich nicht selten aggressive, ausschließende Züge: Wir oder Ihr, Wir |280| oder Sie. Auf Expansion bedachte Machteliten verstanden es noch stets, individuelle und gemeinschaftliche Trostbedürfnisse
für ihre Zwecke einzuspannen.
Das Begehren, anderen nicht nachzustehen, ist für sich genommen kein Garant der Gleichheit. Es findet sich leichter mit dem
Elend als mit dem Glanz des Lebens ab. Der Vergleich schielt, zumeist, und zwar nach oben, dorthin, wo das Dasein in der Fülle
seiner Möglichkeiten strahlt. Die Zonen von Not und Entbehrung streift er mit dem milden Blick des Philanthropen, der zu jeder
Hilfe bereit ist, grundsätzlich erleichtert darüber, daß Hilfe unter den gegebenen Umständen nicht angeht.
Ob der Hang zum Vergleich die Gleichheit fördert oder vielmehr hintertreibt, hängt von der Struktur und der jeweiligen Verfassung
der Gesellschaft ab, zuallererst davon, ob die jeweils benachteiligten Gruppen über die reale Chance verfügen, das soziale
Gefälle zu ihren Gunsten einzuebnen. Gesellschaften, die dem kollektiven Auftrieb von unten Raum und Rahmen geben, gesetzlichen,
institutionellen, die jene mit den schlechtesten »Startbedingungen« am nachdrücklichsten fördern, zwingen den Vergleich in
die Bahn egalitärer Gewohnheiten. Der Blick nach unten trifft auf Menschen, die sozial im Aufstieg begriffen sind, auf die
Nachbarn von Morgen. Der Blick nach oben wird freier, aussichtsreicher, löst sich vom Ressentiment gegen die ewigen Gewinner.
2. Mit der Gleichheit verhält es sich wie mit der Freiheit und dem Recht: Das Bedürfnis nach diesen sozialen Gütern wächst
proportional zu seiner Befriedigung. In je höherem Maße sich Menschen bereits daran gewöhnt haben, einander als annähernd
Gleiche zu begegnen, desto empfindlicher und unnachsichtiger reagieren sie auf noch bestehende Unterschiede, desto leidenschaftlicher
drängen sie auf deren Ausgleich. Weit davon entfernt, ein Gemeinwesen als sozial ungleich zu charakterisieren, liefern Gleichheitsforderungen
zumeist zuverlässige Informationen über seine egalitäre Ausrichtung. Je mehr sich, umgekehrt, Differenzen |281| verfestigen, Menschen und Menschengruppen soziale Chancen für sich monopolisieren, ausdrücklich oder insgeheim, desto matter
wird der Gleichheitssinn, desto mehr breitet sich die Bereitschaft zur Hinnahme selbst krasser Kontraste in der gesamten Gesellschaft
aus. 307
Snobismus und Arroganz der Monopolinhaber finden ihr Gegenstück im stummen Groll und im zutiefst gekränkten Selbstrespekt
der Ausgeschlossenen. Das Vergleichen hört nicht auf, auch seine gewohnte Blickrichtung nach oben behält es bei; von der einlösbaren
Erwartung auf Ausgleich abgeschnitten, verzehrt es sich in der Suche nach Sündenböcken für das persönliche Mißlingen. Die
Klage über »korrupte Politiker«, »unfähige Unternehmer« oder »Sozialschmarotzer« (wenn sich kein anderer findet, kommt der
»Schuldige« aus den eigenen Reihen) ersetzt die Kritik am politischen System und an der ökonomischen Ordnung. Mit der Zuversicht,
das eigene Schicksal wenden zu können, verliert der Vergleich die Orientierung, wird er politisch blind und harmlos. 308
3. Genau auf diese soziale Verharmlosung des Vergleichens, auf seine praktische Suspendierung, will der neue Gerechtigkeitsdiskurs
hinaus, auch in seiner akademischen Version. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat sich die gebildete Welt darauf verständigt,
Gleichheitsideale als Abirrung vom Pfad des guten Lebens in Verruf zu bringen. Auch ein Leben am unteren Rand der Gesellschaft
kann subjektiv
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