Buerger, ohne Arbeit
Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er
befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen … Man hat den Arbeiter militärtüchtig
gemacht, man hat ihm das Coalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz
heute bereits als Nothstand (moralisch ausgedrückt als UNRECHT –) empfindet? Aber was WILL man? nochmals gefragt. Will man
einen Zweck, so muss man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein NARR, wenn man sie zu Herrn erzieht. –« 325
§ 38 Gerechtfertigte Unterschiede
1. Die Ablösung der Gerechtigkeit von der Gleichheit und ihre Anbindung an Anstand, Achtung und Respekt bedeuten einen Kniefall
vor der Ungleichheit. »Müssen wir uns mit einer Gesellschaftsordnung abfinden, in der alle Hoffnungen auf mehr Gleichheit
gescheitert sind«, fragt einer in gebeugter Haltung und sagt »nein.« Die Gleichheit muß nur »neu verstanden werden«. Es gilt
ein Ich zu fördern, das über genügend Selbstachtung verfügt, um »soziale Unterschiede positiv zu würdigen«. 326 Was bei Nietzsche noch Teil eines provozierenden Programms zur Umwertung der Werte war, verkommt zu einer abgeschmackten
Pflichtübung. Darin erfüllt die »Selbstachtung« die Doppelfunktion von Skalpell und Nadel. Wer sich selbst ausreichend Achtung
entgegenbringt, schneidet sich vom neidvollen Vergleichen ab, vernäht die Wunde und bestreicht sie mit dem Balsam positiv
erlebter Ungleichheit. Nach geglückter |289| Operation versteht er die Gleichheit »neu«, als Gleichheit von Menschen, die sich UNGEACHTET achten, ungeachtet nämlich der
unter ihnen sich ausbreitenden Ungleichheit.
Die Verlogenheit des Arguments wird durch das »Angebot« noch überboten, das die Wohlhabenden den Armen für deren Lernbereitschaft
unterbreiten. Sie erklären sich bereit, etwas von ihrer guten Arbeit abzugeben. Die Beschenkten bezeigen ihre Dankbarkeit,
indem sie soziale Verantwortung entwickeln und sich um die lokale Umwelt sorgen; ein »Lebensstil-Abkommen« der neuen, durch
und durch vulgären Art. 327 Durch ihre unverbindliche Zusage, die eine oder andere Arbeitsstunde an Bedürftige abzutreten, kaufen sich die Inhaber guter
und auskömmlicher Stellen von weiteren Verpflichtungen frei. Im kommoden Gefühl, daß ihre anspruchsvollen Funktionen von anderen
kaum wahrgenommen werden können, werden sie diesen Vertrag, sollten sie ihn jemals zu Gesicht bekommen, gelassen unterzeichnen.
2. »Gleichheit aller im Raum der Fähigkeiten«, das klingt schon besser. Bei diesem Arrangement hat nicht jeder dasselbe, aber
jeder hat genug, um als gleichwertiger Bürger sprechen und handeln zu können. Sind diese Grundvoraussetzungen menschlicher
Handlungsfähigkeit erfüllt, erscheinen »darüber hinausgehende Einkommensunterschiede im Prinzip unproblematisch«. 328 Sind sie das wirklich? Wie sich früher ergab (§ 31.4–5), hängt der soziale Zusammenhalt eines Gemeinwesens nicht allein von
der Handlungsfähigkeit der einzelnen, sondern auch von der realen Möglichkeit ab, als Ebenbürtige MITEINANDER in Kontakt zu
treten. Die soziale Korrespondenz der Lebensweisen muß gewahrt bleiben, so daß jeder und jede imstande ist, sich in die Lage
und die Vorstellungen der anderen hineinzuversetzen.
Die »Kreuzung der sozialen Kreise«, ein altes Thema der Soziologie, gewinnt in einer Ära rapide zunehmender Abschottung von
Lebensformen und Lebensstilen unerwünschte Aktualität. Eine stabile Kultur der Kooperation setzt dreierlei voraus: Menschen
ohne existentielle Ängste, |290| soziale Differenzen innerhalb der Grenzen des praktischen Gemeinsinns UND Auftrieb von unten, die Chance unterprivilegierter
Gruppen, Armut und Unselbständigkeit zu überwinden. Alle drei Faktoren zusammen definieren das unverzichtbare Maß an Gleichheit,
das eine gerechte Gesellschaft auf demokratischer Grundlage voraussetzt. 329 – Der gegenwärtige Diskurs über Teilhabe und Respekt, die ganze zeitgenössische Reformdebatte verletzen diese Voraussetzungen,
ignorieren, daß alle sozialen Gruppen und nicht nur die Bessergestellten in der Lage sein sollten, an Entscheidungen über
das, was erhaltenswert und was zu opfern ist, mitzuwirken. 330 Diese Mitwirkungsrechte, ihre Ausdehnung auf jene, die sie noch nicht oder nicht in vollem Umfang genießen, sind das einzige
Fortschrittskriterium für
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