Buerger, ohne Arbeit
unterscheiden. Jene begründen
einen allgemeinverbindlichen Verhaltenskodex, diese stiften ein soziales Band. Wer rechtliche Verpflichtungen vom guten Willen
der Beteiligten abhängig macht, gefährdet die bürgerliche Sicherheit. Wer moralische Pflichten dekretiert, gefährdet die menschliche
Autonomie. Er gefährdet, mehr noch, die Gesellschaft als ganzes. Am Ende triumphiert ein allmächtiger Staat, der jedem und
jeder vorschreibt, was zu tun und was zu unterlassen ist.
»Brüderlichkeit«, schrieb Ferdinand Bastiat, ein Wortführer des europäischen Liberalismus, »besteht schließlich darin, für
einen anderen ein Opfer zu bringen, für ihn zu arbeiten. Wenn sie freiwillig, bewußt, spontan ausgeübt wird, dann applaudiere
ich. Ich bewundere Opferbereitschaft vor allem dann, wenn sie vollständig ist. Wenn man jedoch in einer Gesellschaft das Prinzip
aufstellt, daß die Brüderlichkeit vom Gesetz erzwungen wird, daß also, deutlich gesprochen, die Verteilung der Früchte der
Arbeit gesetzlich, ohne Rücksicht auf die Rechte der Arbeit selbst, geregelt wird, wer kann dann sagen, auf welche Weise dieses
Prinzip wirksam werden wird, welche Form ihm die Laune des Gesetzgebers verleihen, in welchen Institutionen es sich kraft
eines Dekrets über Nacht verkörpern wird? Ich frage mich, ob unter diesen Bedingungen eine Gesellschaft überhaupt existieren
kann.« 160
|168| Der Liberalismus ist ein erstaunlich inkonsequentes Denksystem. Er weiß, daß Armut den sozialen Frieden bedroht. Ihr systematisch
abzuhelfen, weigert er sich jedoch standhaft. Noch größer als seine Angst vor der sozialen Anomie ist seine Furcht vor der
ausufernden Bürokratie. Der Liberalismus will den schlanken Staat. Aber er muß ihm zugleich einen starken Arm verleihen, um
das Elend wenigstens einzuschüchtern. Mit derselben Leidenschaft, mit der er die erzieherischen und sozialen Pflichten des
Staates in lauter persönliche Gnadenakte verwandelt, besteht er auf der ungeschmälerten Wahrnehmung seiner polizeilichen Hoheitsrechte.
Es bereitet ihm nicht das geringste Kopfzerbrechen, in ein und demselben Vortrag die Schließung öffentlicher Schulen und den
Bau neuer Gefängnisse zu verfügen. Was ist das Gefängnis schließlich anderes als eine weitere Schule des Lebens. Es ist diese
Inkonsequenz, die den Liberalismus immer wieder in die Fänge des Staates treibt. Sie treibt ihn zugleich in die Fänge eines
ebenso weltfremden wie erbarmungslosen Moralismus.
Daß die Individuen ihre Umstände in der Hand haben, daß sie stärker sind als das, was sie umgibt, ist der Kern des liberalen
Menschenbildes. Das höchste Zugeständnis an die sozialen Realitäten, dessen es fähig ist, besteht in der Einräumung eines
Systems mildernder Umstände. Mehr als eine Modifikation des Moralismus kommt dabei nicht heraus. Das Unglück eines Menschen
mag durch frühe Entbehrungen, ein freudloses Elternhaus oder durch schlechten Umgang »mitbedingt« sein; der Freiheit des Unglücklichen,
seinem Leben eine andere Wendung zu geben, geschieht dadurch kein Abbruch. Als wäre diese dürftige Philosophie niemals einer
fundamentalen Kritik unterzogen worden, tischt sie uns der Neoliberalismus wie eine Offenbarung auf.
6. Blamiert wurde der liberale Freiheitsdiskurs bereits zu einer Zeit, als er noch eine Zukunft vor sich hatte – von Denis
Diderot. Der ahnte wohl, daß er zu weit gegangen war. So hütete er sich, das Manuskript zu publizieren, das diese |169| Abrechnung enthielt. Erscheinen konnte der im Jahre 1776 abgeschlossene Text,
Rameaus Neffe
, erst viele Jahrzehnte später. Man erinnert sich vielleicht. Ein Philosoph, Diderot selbst, führt eine fiktive Unterredung
mit Jean-François Rameau, einem hochbegabten Taugenichts und Neffen des seinerzeit berühmten Komponisten Jean-Philippe Rameau.
Der eine verkörpert die Tugend, der andere die Verworfenheit, jener die Vernunft, dieser die Verwirrung, hart am Irrsinn.
Das Gespräch dieser beiden variiert, pikanterweise, ein moralisches Thema, die Rechtschaffenheit. Sie allein führe, doziert
der Philosoph, zu dauerhaftem Glück. Gemeinheit, Lüge und Verbrechen könnten für kurze Zeit ein scheinbares Glück begründen,
auf längere Sicht brächten sie nichts als Schande und Verderben. Nur dem Genie seien Ausnahmen von der moralischen Regel verstattet.
Wer geistig im Olymp lebt, mag hier und da im Alltag fehlen.
Rameau hält sich mit solchen Wahrheiten
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