Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
Vom Netzwerk:
Konstellation, im Denken wie
     im Handeln. Hatte der Philanthropismus die soziale Frage als eine individuelle oder Minderheitenfrage aufgeworfen, so hob
     nun ein Diskurs an, der mit anderen Formaten hantierte, mit Durchschnittswerten, anonymen Trends, namenlosen Wahrscheinlichkeiten.
     Statt von menschlichem PECH sprach man nunmehr von sozialen ÜBELN.
    Natürlich vollzog sich dieser Übergang nicht frei von Widerständen. Der Weg zu einer allgemeinen und gesetzlichen Risikoprävention
     führte über einen Jahrzehnte währenden Streit zwischen den Verfechtern einer schrankenlosen und den Protagonisten einer sozial
     gezähmten Marktfreiheit. Ob |172| es um die Einschränkung und später um das Verbot der Kinderarbeit, um die Anerkennung von Berufskrankheiten und die Berentung
     von Invaliden ging, stets eilten unbelehrbare Liberale herbei, die vor der Heraufkunft eines allmächtigen Vormundschaftsstaates
     warnten, der die Initiative erstickte und die Faulheit ermutigte. Was in diesem Ringen zunächst die Oberhand gewann, war eher
     eine Synthese aus Liberalismus und Determinismus, wie der folgende Text von Louis Bourgeois, einem Vordenker der »Risikogesellschaft«,
     aus dem Jahre 1897 zeigt: »Die sozialen Übel sind jene, deren Ursache nicht nur (!) dem persönlichen Verschulden des Individuums
     zuzuschreiben ist, sondern dem Verschulden und der Unwissenheit aller. Die sozialen Übel sind jene, deren Auswirkungen sich
     nicht nur auf das Individuum beschränken, sondern darüber hinaus unweigerlich alle anderen Mitglieder der Gesellschaft betreffen;
     die sozialen Übel sind jene, deren Ursachen und Auswirkungen in ihrer Dimension weit über das Individuum selbst hinausgehen
     und bei denen infolgedessen die Haftung der ganzen Nation zum Tragen kommt.« 165
    Die allgemeine Entwicklungsrichtung ließ sich von derlei rückwärtsgewandten Anleihen bei der liberalen Rhetorik nicht aufhalten.
     Angesichts der industriekapitalistischen Revolutionierung sämtlicher Verhältnisse verlor der Gedanke einer rein individuellen
     Verantwortlichkeit seine Grundlage und seinen Sinn. Die Schuldverhältnisse waren nicht mehr primär im Individuum begründet.
     Sie gingen auf eine zugleich reale und ungreifbare Einheit über, auf die Gesellschaft. Die moderne Sozialversicherung, das
     ganze aufgefächerte System einer nationalstaatlichen Daseinsfürsorge leiten sich von dieser epochalen Wende her. Das liberale
     Zeitalter ging zu Ende. Das sozialdemokratische Zeitalter brach an, mochten sozialistische Parteien bereits unmittelbaren
     Einfluß auf die Regierung haben oder nicht.
    3. Zumeist besaßen sie diesen Einfluß nicht. Wie der niederländische Soziologe Abram de Swaan in einer vergleichenden Untersuchung
     nachwies, waren es recht unterschiedliche, |173| mitunter höchst ungewöhnliche Koalitionen, die dem Sozialstaat in den Sattel halfen. 166 In Deutschland ging er aus dem Bündnis von administrativ-politischen Eliten und Großindustriellen hervor; in England und
     Frankreich entstand er mit zeitlicher Verzögerung, aber auf breiterer sozialer Grundlage. Hier nahm die Arbeiterbewegung aktiveren
     Anteil. Noch später entwickelte er sich in den Niederlanden, dann aber als ein die ganze Nation einigendes Projekt. Die schmalste
     Basis besaß er in den Vereinigten Staaten, wo er als Koproduktion eines aktivistischen Regimes (des Rooseveltschen) und der
     Gewerkschaften ins Leben trat und von Anfang an auf den energischen Widerstand von Industrie und Mittelschichten traf.
    Aber wie immer er im einzelnen zustande kam, die Wende vom Individualismus zum »Solidarismus«, von der Individual- zur Sozialmoral,
     war durchaus zweischneidig. Sie erhöhte die Sicherheit, aber auch die Abhängigkeit der sozial Schwachen. Der Kampf gegen das
     soziale Übel war stets auch ein Kampf gegen seine designierten Opfer, gegen ihre Unordentlichkeit und Unbotmäßigkeit. Man
     sorgte für ihre Ausbildung, aber man überwachte auch ihre Ernährung, ihren Alkoholkonsum, ihren Umgang; man half ihnen, die
     Zeit der Arbeitslosigkeit zu überbrücken, aber man trug Sorge, daß sie nicht in Müßiggang verfielen oder, schlimmer noch,
     illegale Erwerbsquellen erschlossen; man schützte sie vor berufsbedingten Risiken und unterwarf sie zugleich einem peinlich
     genauen Reglement von Arbeitsvorschriften. Kurz und gut: Man versicherte sie, um sich ihrer als willfährige Mitarbeiter eines
     gigantischen sozialhygienischen Projekts zu versichern. Jede

Weitere Kostenlose Bücher