Buerger, ohne Arbeit
gestellt für sich zu sorgen. Sie verblieben daher im Bereich der Fürsorge und der Abhängigkeit,
die ihre drakonischen Züge abstreiften, ohne sich zu rechtlichen Garantien aufzuschwingen.
Anders als die »kräftigen« Armen, die einzig aufgrund einer monströsen Klassifikation unter die Bettler und Mörder geraten
waren und nun erneut zum Staatskörper gehörten, schickte man die hilfsbedürftigen Armen, wie von den Reformern gewollt, zum
ewigen Bestimmungsort ihrer Aufbewahrung und möglichen Regeneration, zu ihren Familien zurück, und ermahnte die Wohlhabenden,
deren schweres Los nach Kräften zu erleichtern. Fanden sie dort keine Aufnahme, irrten sie allein durch die Welt, Hilfeflehende
ohne Bindung und weitere Bewandtnis, dazu auserkoren, zusammen mit dem »Faulen« unter den arbeitsfähigen Armen die allseits
verachtete SUBKLASSE der Pauper zu bilden. Ins sogenannte LUMPENPROLETARIAT herabgesunken, konnten sie nicht einmal mit dem
Erbarmen der Revolutionäre rechnen. 158
Indes erwartete auch die zu Bürgern durchaus zweiter Klasse »aufgestiegenen« arbeitenden Armen ein mehr als zweifelhaftes
Schicksal. Aller Hemmnisse und sonstigen Rücksichten ledig, sich selbst am Leben zu erhalten und den gesellschaftlichen Reichtum
zu mehren, galt ihr Scheitern als Beweis mangelnden Willens, minderen moralischen Seins. Ihre Armut war nicht das Resultat
sozialer Verhältnisse, sondern eine verurteilenswerte Verhaltensweise. Eine Welt, die den Opferstatus abgeschafft hatte, verwandelte
das Leid in eine Adresse ohne sozialen Absender, in Pech. Wenn jene, deren wirtschaftliche Fruchtbarkeit überschwenglich gefeiert |166| wurde, auf denen das Glück, der Fortschritt der Nationen ruhte, unter der Last zusammenbrachen, verwirkten sie den letzten
Anspruch, den man den anerkannten Invaliden noch gewährte, den Anspruch auf philanthropische Zuwendung. Die Freiheit, die
sich in ihnen aufs äußerste individualisierte, war die Freiheit sozial Entkoppelter, die sich der Erschöpfung und dem frühen
Tod entgegenarbeiteten.
4. Diese letzte Verlassenheit stellte sie selbst unter jene, die in Gefangenschaft blieben, die man weiter verwahrte. Mit
ihnen, den KRIMINELLEN, hatte man noch etwas vor. Die Debatten um eine Reform des Strafrechts, die der Französischen Revolution
vorausgingen, kreisten um den Gedanken der moralischen Läuterung der Delinquenten; um die Wiederaneignung ihres Lebens und
ihrer körperlichen Kräfte durch eine Gesellschaft, die einen unstillbaren Hunger nach fleißigen Händen entwickelte; um Wiedergutmachung
durch Arbeit, und zwar durch öffentliche Arbeit. Deren ökonomische Zweckmäßigkeit war schon im Fall formell freier Arbeit
fragwürdig genug und hatte bereits im siebzehnten Jahrhundert eine erregte Debatte ausgelöst, als Richelieu und Colbert erstmals
die Schaffung eines staatlichen Beschäftigungssektors erwogen. Mochten die seinerzeit vorgebrachten Gegenargumente (Lohndumping,
öffentliche Arbeit schlägt private) bei unfreier Arbeit noch weit stichhaltiger sein, so schien deren moralischer Ertrag nur
desto gewisser: anschauliche Staatsbürgerkunde für alle jene, die der freien Arbeit in Müßiggang entfliehen wollen; Strafverbüßung
in Gestalt eines öffentlichen »Museums der Ordnung«. 159 – Erst nach dem Scheitern der Reformprojekte und der Wiederkehr des Kerkers in Gestalt des »wissenschaftlichen Gefängnisses«
als Zentralinstitution der bürgerlichen Disziplinargesellschaft besetzte die Figur des HÄFTLINGS erneut den ihr seit je zugedachten,
gleichsam unterirdischen Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie. Sofern Arbeit in diesem System noch eine Bedeutung zukam,
war es weder die der ökonomischen Rationalität noch die dazu komplementäre der moralischen |167| Lektion. Als einsame Verrichtung hinter Gefängnismauern mißt sie die Bereitschaft aus der Gesellschaft Herausgefallener, sich
deren Ordnung um ihrer selbst willen zu unterwerfen.
5. Der klassische Liberalismus löst alles in Freiheit auf, Armut und Fürsorge eingerechnet. Wer arm ist, hat sich das selber
zuzuschreiben. Und wer den Armen hilft, tut es aus Menschenliebe. Wäre er von Rechts wegen zur Hilfe gehalten, wäre er nicht
mehr frei und die Wohltat selbst moralisch entwertet. Auch hätte der Almosenempfänger niemanden, dem er persönlich danken
könnte.
In Gesellschaft leben bedeutet, zwischen rechtlichen und moralischen Verpflichtungen strikt zu
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