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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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aber warum? War seine Arbeitsunfähigkeit vielleicht nur vorgetäuscht? Entsprang sie in allzu vielen Fällen nicht
     einer nun auszumusternden Seßhaftigkeit, unflexibler Heimatliebe? Hatte eine falsch verstandene staatliche Mildtätigkeit diese
     pastoralen Sitten nicht mutwillig befestigt? Simulierte Bedürftigkeit, Gemeindehörigkeit, »gesetzliche Nächstenliebe« – was
     war daran »gut« zu nennen? Da war der »schlechte« Arme ein weit hoffnungsvollerer Kandidat der neuen Marktfreiheit. Immer
     unterwegs, Träger einfachster Vermögen und daher anspruchslos, brauchbar, anstellig zu allem, verkörperte er das eigentliche
     Gute der anbrechenden Ära. Im Grunde existierten keine guten Armen; dem Ganzen förderlich, erstrebenswert war nur die Armut
     selbst. Sie machte die Trägen fleißig, und wenn man sie nicht verwöhnte, dann blieben sie es für ihr ganzes Leben. Die Armen
     unter Umstände zu versetzen, die ihrem Dasein keinen weiteren Rückhalt als die Arbeit boten, so daß sie das bestehende Angebot
     an Arbeitsplätzen räumen mußten, war die Forderung des Augenblicks. Alles andere war humanistisches Gefasel oder fiel in den
     Zuständigkeitsbereich der fakultativen Barmherzigkeit. – Fehlgeleitete Menschenliebe sprach auch aus der unsauberen Unterscheidung
     zwischen arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen Personen. Wohl bedeutete es gegenüber der älteren Auffassung einen Fortschritt,
     im arbeitsfähigen Individuum den guten, im arbeitsunfähigen den schlechten Armen zu vermuten, der Handikaps nur vorschützte.
     Nur mußte die Vermutung zur allgemeinen Richtschnur der Behandlung dieser Komödianten werden. Auf einen Fall nachgewiesener
     Arbeitsunfähigkeit kamen neun vorgetäuschte, und das Individuum war zu loben, sofern es tatsächlich arbeitete, nicht, weil
     es arbeiten KONNTE. Arbeitsfähigkeit und Arbeitsvollzug auch nur gedanklich voneinander abzugrenzen, gab dem Zweifel Nahrung,
     die Gesellschaft könnte sich außerstande zeigen, die |164| Arbeitsbevölkerung vollständig mit Arbeit zu versorgen; eine Konfusion, die nur die Faulen ermutigte.
    2. In dem neuen Arrangement bekamen die für arbeitsfähig erkannten Armen (und wer war das nunmehr nicht?) die ganze Unbarmherzigkeit
     und Härte der sich in der Wirklichkeit auslebenden Utopie zu spüren. Zur Arbeit verpflichtet, ja verurteilt, mit einem Recht
     auf Arbeit nicht versehen, überantwortete man sie ohne Anlaufzeit der Selbstverwertung. Der freie Arbeitsvertrag wurde den
     Arbeitenden in einem politischen Herrschaftsverhältnis aufgezwungen mit der Folge, daß sich die Gesellschaft auf ein Individuum
     ohne Ressourcen, ohne Würde und Status gründete: Das ist der eine blinde Fleck des utopischen Kapitalismus. Die Basis ist
     zu schwach, zu brüchig, zu verletzlich, die ganze Konstruktion zu tragen. 156
    Der zweite blinde Fleck gleicht einem toten Winkel. Zwar entwickelte sich das Kapitalverhältnis in dieser Epoche zunehmend
     auf eigener Grundlage, brach es mit den Restriktionen und Konventionen der Vergangenheit; die Masse derer, die den Reichtum
     produzierten, blieb jedoch an die Vergangenheit gekettet. Formell frei, konnten die Individuen die Schranken ihrer Herkunft
     überwinden, in prinzipiell jede soziale Position hineingelangen; hypothetisch. Tatsächlich vererbten sich soziale Lagen mit
     einer Beharrlichkeit, die eher zum Mittelalter als zur Moderne paßte. Alles schien in rastloser Bewegung und war es auch,
     nur die sozialen Relationen ruhten; dem vordiktierten Lageschicksal nach oben zu entrinnen, kam einem Wunder gleich. Weit
     mehr als die Existenz von Klassen bildeten die KlassenSCHRANKEN die undurchtrennten Nabelschnüre des industriellen Kapitalismus. 157
    3. In einem folgte der Liberalismus der Wegweisung durch die Aufklärung: Die große Einschließung früherer Jahrhunderte war
     eine aberwitzige Verschwendung des hauptsächlichen Reichtums der Nationen, der arbeitsfähigen Armen. Sie entkamen der Internierung,
     des Zusammengepferchtseins mit Gesetzesbrechern und Wahnsinnigen, um ihr Leben hinfort |165| in völliger Freiheit, das heißt unter dem alleinigen Diktat des Marktes zu führen. Bei den »kranken« Armen verhielt sich die
     Sache anders. Sie streiften ihre Ketten, aber nicht ihr Stigma ab. Innerhalb der neuen Ordnung und ihrer Rationalität galten
     sie als die Nutzlosen schlechthin – in die Freiheit entlassen und zugleich unfähig, den einzig legitimen Gebrauch von ihr
     zu machen: auf sich allein

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