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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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nicht lange auf. Er verstrickt seinen Gesprächspartner in eine andere Welt; in die
     Welt derer, die jenseits von Gut und Böse leben. Bettelarm, ohne feste Bleibe und bar jeder Hoffnung, eine bürgerliche Laufbahn
     einzuschlagen, folgen sie nur mehr ihren Instinkten. Moralische Argumente prallen an ihnen ab. Das einzige Argument, dem sie
     Gehör schenken, ist ihr »leidender Magen«. »Wir scheinen munter; aber im Grunde haben wir alle bösen Humor und gewaltigen
     Appetit. Wölfe sind nicht heißhungriger, Tiger nicht grausamer. Wir verzehren wie Wölfe, wenn die Erde lange mit Schnee bedeckt
     war; wir zerreißen wie Tiger alles, was Glück macht. Manchmal vereinigen wir uns; dann gibt es einen schönen Lärm im Tiergarten.
     Niemals sah man so viel traurige, übelwollende, übeltätige, erzürnte Bestien.« 161 Der Philosoph gibt sich empört. Wirklich erwidern kann er nichts. Den Rameaus dieser Welt Moral zu predigen ist lachhaft,
     wahrhaftig irre der, der es versucht. Die Grenze zwischen den Nichtswürdigen und den Ehrbaren ist keine Grenze, die der freie
     Wille zieht. Es ist die tugendblinde Fügung, die den einen hierhin, den anderen dorthin stellt.
    |170| Sechzig Jahre später betritt ein kongenialer Erbe Rameaus die literarische Bühne, Büchners
Woyzeck
, und seift den Hauptmann, den er täglich rasieren muß, auch noch mit seiner Weisheit ein: »Ja, Herr Hauptmann, die Tugend,
     – ich hab’s noch nit so aus. Sehn sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur; aber wenn
     ich Herr wär und hätt ein’ Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es
     muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!« 162 Armut der Moral, in doppelter Bedeutung: Moral der Armen, die sich keine Tugend leisten können, und Kritik der herrschenden
     Moral als einer schalen Etikette.
    § 21 Die Entdeckung des Kollektivs
    1. Mit Ausnahme der Gesellen, die einen eigenen Stand begründen wollten, entzündete sich die soziale Problematik an Randgestalten
     und Außenseitern, an Vagabunden, Bettlern, Invaliden, Irren, Kriminellen, Paupern, Asozialen. Eine neue Lage entstand erst
     durch das massenhafte Auftreten des modernen PROLETARIERS. Er stand im BRENNPUNKT der Modernisierungsdynamik seiner Epoche,
     ohne auch nur im geringsten in den Genuß ihrer Errungenschaften zu gelangen, weder materiell noch rechtlich; leibhaftiges
     Paradox einer ausgegrenzten Zentralfigur. 163 Die erste Antwort auf diese ganz ungewohnte Herausforderung hieß »Politik ohne Staat« und konzentrierte sich auf die Erkundung
     und Erprobung nichtstaatlicher Auswege aus dem Massenelend. Man diskutierte und initiierte die Wiederbelebung konfessioneller
     Armenfürsorge, rief eine philanthropische Bewegung für Sparkassen und Unterstützungsvereine ins Leben, desgleichen Ausschüsse
     für öffentliche Hygiene oder zur sittlichen Hebung von Gefängnisinsassen, forderte die Begüterten auf, enge persönliche Beziehungen
     zwischen sich als Wohltäter |171| und Hilfsbedürftigen zu knüpfen, schuf paternalistische Arbeitsverhältnisse, die die Fabrik als kleine Gemeinde in Szene setzten
     – und gefiel sich ansonsten in der fortgesetzten Verdammung der »gesetzlichen Nächstenliebe«. Was all diese Maßnahmen miteinander
     verband – die strikte Ablehnung, ja Leugnung der bloßen Existenz des Kollektivs 164 –, bildete zugleich den Grund ihres Scheiterns; gegen den Geist der Zeit ergriffen, zerschellten sie an ihm.
    2. Der Kapitalismus mit seiner Leitidee des
laissez faire
spaltete die Individuen, verstrickte sie in wechselseitige Konkurrenz – als INDUSTRIALISMUS rückte er das Kollektiv gebieterisch
     in den Mittelpunkt der sozialen Erfahrung. Mit dieser Kraftpotenz ausgestattet, zermalmte er den Zusammenhang zwischen der
     moralischen Qualität eines Menschen und seinem sozialen Geschick. Glück und Unglück wurden gleichermaßen zur Glückssache.
     In der auf maschineller Großproduktion beruhenden Massengesellschaft stürzten Menschen nicht nur ausnahmsweise, sondern in
     der Regel unverschuldet, ja ohne jegliches persönliches Zutun ins Verderben. Heute plante man, und morgen brachen Märkte zusammen;
     soeben bestückte man das maschinelle Ungetüm, im nächsten Augenblick lag man in seinem Schlund. Das individuelle Schicksal
     wurde zum unkalkulierbaren, unbeeinflußbaren Risiko. Damit veränderte sich die ganze bisherige

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