Buerger, ohne Arbeit
neue Leistung fand ihre Entsprechung in einem Ausbau der sozialen
Kontrolle. Jede Sozialreform stärkte die Definitionsmacht der Experten über das gesellschaftliche Leben. »An den Schnittstellen
zwischen Staats- und Privatsphäre nehmen heute Expertengruppen monopolistische Mittlerpositionen ein, Fachleute für Bedürftigkeit,
die zwischen den Leistungsbehörden und |174| deren Klientel vermitteln. Sie begleiten die Nutznießer des Sozialstaats, nach feinsten Härtegraden abgestuft, bis zu den
totalen Regimes der Rehabilitations- und Vormundschaftsbehörden.« 167
Dem äußeren Anschein nach hat die institutionalisierte Philanthropie gründlich und ein für allemal mit der Seuchenpolizei
früherer Jahrhunderte gebrochen. Sie gibt sich rechtschaffen, diskret und hilfsbereit. In Wahrheit ist diese Rechtschaffenheit
oft genug die Maske der Arroganz, die Diskretion der Deckmantel einer unerschöpflichen Wißbegierde, die Hilfsbereitschaft
das Lockmittel dauerhafter Abhängigkeit. Das soziale Bürgerrecht trägt einen Knüppel im Tornister. Der fährt, nach zögerlichem
Einsatz, nun wieder munter aus dem Sack.
4. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, zur Zeit der Entdeckung des Kollektivs, war der Sozialstaat noch ein Projekt.
Die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse vom individuellen Kontrakt zum gesetzlich garantierten Status zeichnete sich allenfalls
vage ab; die ersten kollektiven Versicherungssysteme wiesen zwar in die Richtung des späteren Sozialeigentums, waren aber
weder allgemein verbindlich noch miteinander koordiniert. Wie so oft in Zeiten des Umbruchs war man im Denken kühner als im
Handeln; man statuierte neue Prinzipien und bequemte sich in der Praxis notgedrungen zum Kompromiß. 168 Eine Ausnahme bildete der Revolutionszyklus der Jahre 1848/49, speziell in Frankreich. Hier deklarierte die provisorische
Regierung das Recht auf Leben als erstes Menschenrecht, legte es in den näheren Ausführungsbestimmungen jedoch als Recht auf
Arbeit aus. Für die damaligen Verhältnisse nichtsdestoweniger eine Radikallösung der sozialen Frage. Sie überlebte das Scheitern
der Revolution nicht, tauchte während der Pariser Kommune 1871 wieder auf und ging mit ihr aufs neue unter. Die deutsche Linke
zeigte sich in dieser Frage von Anfang an unschlüssig wie ihr geistiger Stammvater Marx (§ 3.3). Die Arbeit in der modernen
Industrie formte und organisierte die |175| Arbeiterklasse, untermauerte ihre politischen Ambitionen. Daraus einen Rechtsanspruch abzuleiten erschien ihren maßgeblichen
politischen Repräsentanten unter den obwaltenden Umständen unrealistisch und im Blick auf das »Endziel« reaktionär. Für Kautsky
führte das Recht auf Arbeit direkt »ins Arbeitshaus«. Revolutionär und »Grundlage jeder ernsthaften Sozialreform« sei allein
die Proklamation des »Rechts auf Faulheit«, auf Freizeit und Genuß, »auf freie Betätigung der körperlichen und geistigen Kräfte
in Spiel und Übung, in Kunst und Wissenschaft«. 169 – Gegen beide Forderungen, die französische wie die deutsche, behauptete sich einstweilen und für noch lange Zeit die alte
Unterscheidung zwischen arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen Personen samt der ihr zugehörigen Kasuistik von Handikaps. 170 Dennoch blieb nicht alles beim alten. Arbeitsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit verwiesen nicht länger auf subjektive Makel,
sondern auf objektive Risiken, die einzuschränken und erträglich zu gestalten als Gebot der sozialen Gerechtigkeit empfunden
wurde. Die Gesellschaft war BEWUSST ZU ORGANISIEREN, auf der Basis kollektiver Prozesse und Zusammenhänge, den Überlegungen
gemäß, die Saint-Simon und andere schon Jahrzehnte zuvor entwickelt hatten. 171
Die Hinwendung zum Organisationsprinzip und, darauf gestützt, zum staatlichen Interventionismus in Wirtschaft und Gesellschaft
wurde und wird von interessierter Seite gern als antiliberale Verschwörung etikettiert. Ein Mythos, wie das Studium der Quellen
zeigt. Detaillierte Vorschriften und Regelungen auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheit, der Fabrikverhältnisse, des Transportwesens,
der Zölle, der Sozialversicherung ergingen nicht an letzter Stelle auf Anregung überzeugter Anhänger des
laissez faire
. Auf ihrem Höhepunkt angelangt, gefährdete die Marktgesellschaft den Fortbestand der Marktwirtschaft, und um diese zu retten,
waren Abstriche vom völlig freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte und Akteure
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