Buerger, ohne Arbeit
menschliche Elend verantwortlich, sondern die Gesellschaft als solche. Gerade weil die Menschen sich
von der Natur entfernten, äußerlich zivilisierten, liefen sie ins Unglück. Gerade weil sie der Meinung und der Konvention
statt ihrem Instinkt vertrauten, blühten Betrug und Vorurteil.
|161| Dieser Diagnose gemäß, sang man allenthalben das Lob der Entbehrung, der Einfachheit, der schlichten Sitten. Für den Gedanken
einer institutionalisierten Fürsorge war in dieser Konfiguration kein Platz. Obwohl vom Sozialen geradezu besessen, schloß
der herrschende Diskurs die Erörterung einer »soziale Frage« aus. Teils idealisierte er die Gestalt des Armen, teils nivellierte
er sie. Der arbeitsfähige Arme galt als Günstling des Schicksals. Er wurde niemals krank. Und erkrankte er doch, genas er
ebenso schnell. Er ertrug Kälte und Hunger. Für ein geringes Entgelt nahm er jede Anstrengung auf sich. Auf das Notwendigste
fixiert, war er der geborene Feind des Luxus und der Verweichlichung. Man mußte ihm nicht helfen, sondern ihm nacheifern.
Alle sollten so werden, wie er schon war. Der zur Arbeit unfähige, kranke Arme fiel dagegen nicht besonders auf. Krank, zivilisationsgeschädigt,
war ein jeder. Hier gab es nur graduelle Unterschiede. Und nur eine einzige Rettung: die Auflösung der Gesellschaft in ihre
Bestandteile, in kleine Familienverbände, die sich selbst genügen.
Von heute aus gesehen ist es außerordentlich bemerkenswert, wie nahe konservative Zivilisationskritik und liberales Zivilisationspathos
beieinanderliegen, wenn sie sozial Stellung nehmen müssen. Ihr letztes Auskunftsmittel bleibt immer die Familie. Für den Konservativen
ist sie reine Natur, für den Liberalen eine Art Lumpensammler der Gesellschaft. Für beide zusammen ist sie jener Glücksfall,
der es ihnen erlaubt, vom Elend zu sprechen, ohne an rechtliche und institutionelle Lösungen denken zu müssen. Wer immerfort
von der Familie spricht, will von sozialer Gerechtigkeit schweigen.
8. Die radikalen Sozialreformer, die in der Zeit unmittelbar vor der Französischen Revolution und in ihr wirkten, bildeten
eine überschaubare Gemeinschaft; anstatt soziale Tatsachen in die Welt zu setzen, sahen sie sich dazu verdammt, Theorien zu
produzieren, Projekte zu entwerfen. Sie stritten für ein allgemeines Recht auf Leben, auf existenzsichernden |162| Unterhalt, leiteten den Fürsorgeanspruch unmittelbar aus der Staatsbürgerschaft ab und fühlten sich von der Revolutionsverfassung
des Jahres 1793 bestätigt. Aber ehe sie ihre Wirkung entfalten, Institutionen und Alltagsleben umgestalten konnte, war sie
vorüber, beendet, allseits verschrien und als Verbrechen abgetan. Der große Satz: »Die Not der Völker ist ein Unrecht der
Regierungen« 155 galt nicht mehr oder wenn doch, dann als Ausfluß des größten Unrechts aller Zeiten, der sich terroristisch übersteigernden
Revolution. Die Ohnmacht der Reformer gründete jedoch nicht allein in ihrer Entlassung aus dem geschichtlich-politischen Prozeß;
in einer für die Gestaltung der Zukunft wesentlich mitentscheidenden Frage wußten sie selbst keinen Rat: Was sollte mit denen
geschehen, die arbeitsfähig waren und dennoch keine Arbeit fanden? Hatten auch sie Anspruch auf staatliche Unterstützung?
Oder folgte die Arbeit gleichsam naturnotwendig aus der Arbeitsfähigkeit, so daß jeder, der nicht arbeitete, automatisch den
UNWILLEN bekundete, Arbeit zu leisten? Vielleicht gab es ja gar keine erzwungene Arbeitslosigkeit, höchstens Arbeit, die nicht
verrichtet wurde, weil niemand sich dazu bereit fand, und die Lösung der sozialen Frage bestand darin, diesem Mißstand abzuhelfen,
indem man den Widerstand der Arbeitsverweigerer mit Härte brach. Noch war der Kapitalismus eine Utopie, und so schwankten
selbst die energischsten Köpfe zwischen der Kritik an seinen Auswüchsen und der Hoffnung, er möge, voll entfaltet, die Kinderkrankheiten
überwinden, mit denen er die Welt betrat.
§ 20 Die Armut der Moral
1. Der liberale Armutsdiskurs, voll utopischen Feuers, machte mit solch umständlichen Erwägungen kurzen Prozeß. Abrupt setzte
er sich sowohl über die ältere Unterscheidung zwischen guten und schlechten Armen als auch über die revidierte Version aus
der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts |163| hinweg, die Arbeitsfähige von Arbeitsunfähigen abgehoben hatte. Den »guten« Armen traf der erste Schlag. Der war zur Arbeit
unbrauchbar,
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