Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
Vom Netzwerk:
Vorrangigkeit
     der großen Kollektive vor dem einzelnen. Das Recht, bis dahin als Korrektiv der bürgerlichen Gesellschaft gegen den Staat
     verstanden, verwandelte sich in ein Instrument, das die Privatleute notfalls auch gegen ihr kurzsichtiges Eigeninteresse versicherte,
     dazu zwang, die langfristigen, im Detail nicht vorhersehbaren Folgen ihres Handelns zu berücksichtigen; es wurde zum Großsiegelbewahrer
     der menschlichen Würde. – Was bisher als rein privat galt, als persönliches Schicksal, Versagen, Zufall, fiel nunmehr in den
     Bereich des öffentlichen Interesses und der Zuständigkeit gesellschaftlicher Agenzien. Funktionswandel auch in der Moral:
     Umstellung von der geträumten Autonomie unbeschränkter Willensfreiheit auf die verinnerlichte Abhängigkeit von unbekannten
     anderen. Alles in allem: Rückkehr nach verlustreicher Verwirrung zum Grundsatz jener Wirtschafts- und Rechtsordnungen, die
     dem Kapitalismus vorausgingen – daß es nämlich »nicht Individuen, sondern Kollektive (sind), die sich gegenseitig verpflichten,
     die austauschen und kontrahieren; die am Vertrag beteiligten Personen sind moralische Personen«. 177
    Es war diese geistige Wende, die das moderne Sozialeigentum und die Versicherungsgesellschaft hervorbrachte. Sie bereitete
     der stürmischen Ausbreitung des öffentlichen Dienstes den Weg, öffnete Menschen aus der Mittel-, auch aus der Unterschicht
     weite Aufstiegskanäle, verhalf Ärzten, Juristen, namentlich Lehrern zu Ansehen, Einfluß und sozialer Normierungskraft. Sie
     etablierte die moderne Expertenherrschaft und erzwang zugleich die Protoprofessionalisierung der Laien. Sie ermöglichte erstmals
     in der Geschichte des Kapitalismus die gesellschaftliche Teilhabe aller oder doch fast aller sozialer Gruppen am wirtschaftlichen
     Fortschritt; die STELLE wurde mit Merkmalen und Garantien ausgestattet, die ihrem Inhaber zu einer anerkannten STELLUNG in
     der Gesellschaft verhalfen. Sie bewirkte die |179| Selbststabilisierung des Kapitalismus und leitete eine neue Phase der Entwicklung ein – die Lohn- bzw. Erwerbsarbeitsgesellschaft. 178
    7. Die lange Reihe problematischer Figuren beschließt der IMMIGRANT. Als der Fremde, der heute kommt und morgen bleibt, durchstreift
     er die Weltgeschichte und beunruhigt die schon Eingesessenen, wo immer er auftaucht. Gesellt sich zur gewöhnlichen Fremdheit
     die ethnische hinzu, bedarf es schon überaus glücklicher Begleitumstände, um die Bedenken der Etablierten zu zerstreuen. Mischt
     er sich unter sie von bloßer Not mobil gemacht, von ihrem Wohlstand, ihrer Friedfertigkeit herbeigelockt, dulden sie, wenn
     es gut kommt, sein Verweilen, in der Erwartung, daß er wieder geht. Willkommen ist er, allenfalls, mit Fähigkeiten im Gepäck,
     die sich am Ankunftsort verwerten lassen, Ansehen oder Reichtum der Wirtsgesellschaft mehren. Verfügt er über Fähigkeiten
     so rar wie exklusiv, umwirbt man ihn zuweilen und dient ihm bürgerliche Rechte an. Athen und Rom, die Höfe des Altertums wie
     der Neuzeit schmückten sich mit solchen »guten« Fremden.
    Der Kapitalismus schätzt den Immigranten als anderswo schon fertig produziertes »Humankapital«, das nur noch ausgewertet werden
     muß. Unter den fortgeschrittenen Industriegesellschaften der Gegenwart ist ein regelrechter Raubzug um die klügsten Köpfe
     dieser Erde ausgebrochen, der jeden Gedanken an das Unrecht und an den Schaden verdrängt, den diese in großem Stil betriebene
     Abwerbung den zumeist armen Herkunftsstaaten zufügt. Was den »Talentscout« eines großen Unternehmens mit dem Werbeoffizier
     aus den Zeiten des Absolutismus verbindet, ist dieselbe Gewissenlosigkeit, dieselbe widerwärtige Gier nach Beute. Der eine
     schöpfte, der andere schöpft die Hoffnung und die Zukunft ganzer Länder ab, mag beider Fang noch so verschiedene Aussicht
     winken.
    |180|
§ 22 Blüte und Niedergang der Lohnarbeitsgesellschaft
179
    1. Der frühe Kapitalismus proletarisierte die Arbeiterschaft, die Lohnarbeitsgesellschaft hebt diese Proletarisierung weithin
     auf. Die Differenz zwischen proletarischer Lage und Arbeiterlage kommt gut in der Forderung zum Ausdruck, die bereits Proudhon
     erhob: »Der Arbeiter«, schrieb er 1841, »muß über seinen derzeitigen Lebensunterhalt hinaus in seiner produktiven Arbeit noch
     eine Garantie für seinen zukünftigen Lebensunterhalt finden, denn die Quelle der Produktion kann versiegen und seine produktiven
     Fähigkeiten unwirksam werden.

Weitere Kostenlose Bücher