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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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unumgänglich. Ob Liberale, Konservative oder
     gemäßigte Sozialdemokraten – den drohenden Zusammenbruch |176| des politisch ungezügelten Kapitalismus vor Augen, spielten sie alle die sozialistische Karte aus, die einen offen und mit
     Zuversicht, die anderen verdeckt und mit schlechtem Gewissen. 172 Die liberale Rhetorik verkam zu bloßem Wortgeklingel, zu reiner Kulissenschieberei. Nur die Kommunisten setzten weiter auf
     den revolutionären Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. – Heute, nach dem definitiven Sturz der Umstürzler von
     einst, scheinen alle einflußreichen politischen Lager darauf aus, den gesellschaftlichen Lebensnerv erneut auf seine Widerstandsfähigkeit
     zu testen. Kurioser Rollentausch: Waren es vor einhundertfünfzig Jahren die Liberalen, die das »sozialdemokratische Zeitalter«
     mit eröffnen halfen, so sind es gegenwärtig regierende Sozialdemokraten, die einer neuen liberalen Offensive die letzten Hindernisse
     aus dem Wege räumen. Wer ausschert und die SOZIALE Marktwirtschaft verteidigt, sieht sich unversehens auf der »linken Pole-position« 173 ; bejammernswert die Zeit, die solche Helden zeugt!
    5. Die Entdeckung des Kollektivs und sein Siegeszug in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bedeutete auch eine
     SOZIOLOGISIERUNG DES WELTBILDES. Die soziologischen Wissenschaften entstanden in diesem geschichtlichen Kontext und stabilisierten
     ihn zugleich. Emile Durkheims epochemachende Untersuchung über die gesellschaftliche Arbeitsteilung aus dem Jahr 1893 ist
     ein Paradebeispiel dieser Dialektik. Durkheim polemisierte gegen Herbert Spencer sowie all jene, die den Vertrag auf eine
     Abmachung zweier autonomer Parteien, Rechtsindividuen, reduzierten und einseitig auf den Tausch bezogen, auf Transaktionen
     zwischen Käufern und Verkäufern. Der Gesellschaft fiel lediglich die Aufgabe zu, über die Einhaltung derartiger Verträge zu
     wachen. Seine berühmte Intervention – »nicht alles ist vertraglich beim Vertrag« – begrenzte das Recht der Vertragsparteien,
     zog die Gesellschaft als Gesetzgeber ins Spiel, als Garanten dafür, daß die Vertragschließenden sich nicht nur momentan, sondern
     längerfristig aneinander binden, daß sie Konsequenzen respektieren, |177| die sich aus ihrem Vertrag ergeben, einschließlich solcher, die im Augenblick der Abmachung den Schleier der Ungewißheit tragen. 174
    Durkheim argumentierte zugunsten des harmonischen Zusammenwirkens der Individuen, ihrer Solidarität innerhalb eines Systems
     weitverzweigter und gegenseitiger Abhängigkeiten, für einen Kompromiß zwischen den individuellen Interessen und der gedeihlichen
     Entwicklung des Ganzen. Die aktuellen Modalitäten des Tausches am Güter-, erst recht am Arbeitsmarkt seien viel zu flüchtig,
     zufallsabhängig, um alleinige Grundlage des Vertrags zu sein. Ein Arbeitsvertrag, der lediglich die augenblicklich abschätzbare
     Ertragslage eines Unternehmens widerspiegelt, das Entgelt einzig danach bemißt, zerstöre das auf die Zukunft gerichtete Zusammenwirken.
     Er trifft keinerlei Vorkehrungen für den Fall, daß das Unternehmen zugrunde geht und die Arbeiter ihre Arbeit verlieren, ohne
     jede Sicherung für die Zeit der Arbeitssuche und ohne aus ihrer bisherigen Beschäftigung Ansprüche für ihr Alter ableiten
     zu können. »Der Tausch … ist eben nicht der ganze Vertrag; es geht darüber hinaus auch um die gute Harmonie der zusammenwirkenden
     Funktionen.« 175 Das gesellschaftliche Dasein des Individuums erschöpft sich für Durkheim nicht in der momentanen Position, die es im System
     der gesellschaftlichen Arbeitsteilung innehat; es umfaßt die Fähigkeit, sich in diesem System als freier und gleichwertiger
     Akteur bewegen zu können.
    6. Kollektive und verpflichtende Risikoprävention, jenseits von Patronage, Markt und nur individueller Absicherung – das war
     der Kern des Übergangs vom Kontrakt zum Status. Man entschloß sich, umständehalber, der anonymen Gefahrenquelle einen Namen
     zu geben: »Gesellschaft« (worunter man nicht länger das »Milieu«, sondern die ökonomischen Verhältnisse begriff), und gestaltete
     diese ultimative Ursache des Scheiterns politisch aus. Die nun durchgreifende Soziologisierung des sozialen Weltbildes schuf
     eine neue Art zu denken. 176 Sie räumte der rechtzeitigen Gefahrenabwehr Vorrang |178| vor der Strafe ein, brach mit dem liberalen Primat des Individuums gegenüber der Gesellschaft und statuierte die

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