Buerger, ohne Arbeit
Anders gesagt: Aus der vergangenen Arbeit muß die künftige Arbeit ständig neu erstehen.« 180
Der Arbeiter hat Anspruch auf diese Garantien, weil der kooperative Prozeß, in den er eingeschaltet ist, einen Reichtum schafft,
der in individuellen, rein kontraktlich vereinbarten Lohneinheiten gar nicht gemessen werden kann. Das Ganze ist mehr als
die Summe seiner Teile. Die Doktrin von der Arbeitskraft als Ware unterschlägt diese Gratisgabe gemeinschaftlich verrichteter
Arbeit, spielt sie dem Eigentum in die Hände, ohne jede Rückerstattung; Eigentum, das so zustande kommt, ist Diebstahl. Die
Lohnarbeitsgesellschaft schränkt diesen Diebstahl ein. Die Löhne hören auf, ein bloßes Äquivalent des nackten Arbeitsvermögens
zu bilden, und folgen dem Wachstum und der Produktivität. Zwar mißt die Arbeit mit kleinerem Scheffel als der Kapitalbesitz,
steht sie hinter leitenden Funktionen und hoher Qualifikation zurück, partizipiert sie am wachsenden Reichtum nur proportional
zu dem ihr zuerkannten Rang 181 – aber sie HAT teil an ihm, und das ist das neue, entscheidende Moment. Was Marx für eine Grille des »Bourgeoissozialismus«
hielt, wurde zur zentralen Losung der Lohnarbeitsgesellschaft: »Bourgeoisie ohne Proletariat!« 182 Das ihr eingeschriebene Versprechen hielt für mehr als einhundert Jahre, bildete Fundament und Kern der sozialen Identität
der arbeitenden Massen, der Wiederaneignung ihrer gesellschaftlichen Würde. Die neue, »bürgerliche |181| Form der Lohnabhängigkeit« schloß auskömmliche Löhne ein, aber auch menschliche Wohnverhältnisse, öffentliche und kostenlose
Schulbildung, zunehmende Freizeit, erweiterten Konsum, private Vermögensbildung und staatlich organisierte Daseinsfürsorge. 183
Die Blütezeit der westlichen Lohnarbeitsgesellschaft reichte von der Mitte der 1950er bis zum Beginn der 1970er Jahre und
fiel in die Ära des »Wachstumsstaates«. Der fungierte nicht nur als Garant sozialer Rechte und Ansprüche sowie als öffentliches
Stellenparadies, sondern auch als Motor der Individualisierung. Risikominderung und Vorsorge oblagen mehr und mehr öffentlichen
Körperschaften und gesetzlichen Regelungen, familiäre und nachbarschaftliche Ressourcen der Daseinsführung verkümmerten entsprechend.
Gerade deshalb wirkt sich der gegenwärtige Rückzug des Staates aus seinen Sicherungsfunktionen vielfach so verheerend aus.
Die mitmenschlichen Bindungen, Netzwerke, auf die die einzelnen dadurch verwiesen werden, ähneln einem löcherigen und dünnen
Mantel oftmals mehr als einem wärmenden Gehäuse; die Individualisierung wird zur Falle. Die Sorge, das Individuum könnte sozial
wieder vereinsamen, in Not geraten und dann weder in der öffentlichen noch in der privaten Sphäre ausreichenden sozialen Halt
finden, lief eher am Rande mit, als der Sozialstaat auf der Höhe war, seinem Zenit als Wohlfahrtsstaat entgegentrieb. »Die
soziale Frage schien sich im Glauben an einen unbegrenzten Fortschritt aufzulösen.« 184
2. Es kam anders. 185 Die moderne Erwerbsarbeitsgesellschaft durchlief ihren Scheitelpunkt in den späten 1960er Jahren und bewegt sich seit den
frühen 1970er Jahren auf absteigender Linie. Symptome des seither kritischen Verlaufs sind Massenarbeitslosigkeit, Krise des
unbefristeten Vertrags, Spaltung zwischen Kernbelegschaften und Peripherie, poröse Arbeitsbiographien, prekäre Arbeitsverhältnisse
in finanzieller, sozialer oder rechtlicher Hinsicht oder in all diesen Aspekten zugleich (§ 7.3–4; § 11.4–5). Nun, wo sich
der |182| Platzmangel an geachteten und auskömmlichen Stellen in der Sozialstruktur unübersehbar bemerkbar macht und das Erwerbssystem
sein gutes Gewissen verliert, erfahren die darauf angewiesenen Menschen schmerzlich, daß Arbeit mehr ist als nur Arbeit und
»gute« Arbeit nur, wenn sie die gesellschaftliche Stellung mit sich führt (§ 6). Doch genau daran herrscht eklatantes Defizit.
Immer mehr Menschen erleben Lohnarbeit als eine bedrohliche Situation. Für die überzähligen »Nicht-Ausgebeuteten« hat diese
Bedrohung längst handgreifliche Formen angenommen. Die bürgerliche Form der Lohnarbeit, die die soziale Problematik des neunzehnten
Jahrhunderts gelöst zu haben schien, steht erneut in Frage.
3. Die nun schon klassische Erwerbsformation band die Äquivalenz von Sicherheit und Kontrolle (§ 21.3) mit einer zweiten zusammen,
die zwischen Gewährung und Rückerstattung ein
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