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Buerger, ohne Arbeit

Titel: Buerger, ohne Arbeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Engler
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Anders gesagt: Aus der vergangenen Arbeit muß die künftige Arbeit ständig neu erstehen.« 180
    Der Arbeiter hat Anspruch auf diese Garantien, weil der kooperative Prozeß, in den er eingeschaltet ist, einen Reichtum schafft,
     der in individuellen, rein kontraktlich vereinbarten Lohneinheiten gar nicht gemessen werden kann. Das Ganze ist mehr als
     die Summe seiner Teile. Die Doktrin von der Arbeitskraft als Ware unterschlägt diese Gratisgabe gemeinschaftlich verrichteter
     Arbeit, spielt sie dem Eigentum in die Hände, ohne jede Rückerstattung; Eigentum, das so zustande kommt, ist Diebstahl. Die
     Lohnarbeitsgesellschaft schränkt diesen Diebstahl ein. Die Löhne hören auf, ein bloßes Äquivalent des nackten Arbeitsvermögens
     zu bilden, und folgen dem Wachstum und der Produktivität. Zwar mißt die Arbeit mit kleinerem Scheffel als der Kapitalbesitz,
     steht sie hinter leitenden Funktionen und hoher Qualifikation zurück, partizipiert sie am wachsenden Reichtum nur proportional
     zu dem ihr zuerkannten Rang 181 – aber sie HAT teil an ihm, und das ist das neue, entscheidende Moment. Was Marx für eine Grille des »Bourgeoissozialismus«
     hielt, wurde zur zentralen Losung der Lohnarbeitsgesellschaft: »Bourgeoisie ohne Proletariat!« 182 Das ihr eingeschriebene Versprechen hielt für mehr als einhundert Jahre, bildete Fundament und Kern der sozialen Identität
     der arbeitenden Massen, der Wiederaneignung ihrer gesellschaftlichen Würde. Die neue, »bürgerliche |181| Form der Lohnabhängigkeit« schloß auskömmliche Löhne ein, aber auch menschliche Wohnverhältnisse, öffentliche und kostenlose
     Schulbildung, zunehmende Freizeit, erweiterten Konsum, private Vermögensbildung und staatlich organisierte Daseinsfürsorge. 183
    Die Blütezeit der westlichen Lohnarbeitsgesellschaft reichte von der Mitte der 1950er bis zum Beginn der 1970er Jahre und
     fiel in die Ära des »Wachstumsstaates«. Der fungierte nicht nur als Garant sozialer Rechte und Ansprüche sowie als öffentliches
     Stellenparadies, sondern auch als Motor der Individualisierung. Risikominderung und Vorsorge oblagen mehr und mehr öffentlichen
     Körperschaften und gesetzlichen Regelungen, familiäre und nachbarschaftliche Ressourcen der Daseinsführung verkümmerten entsprechend.
     Gerade deshalb wirkt sich der gegenwärtige Rückzug des Staates aus seinen Sicherungsfunktionen vielfach so verheerend aus.
     Die mitmenschlichen Bindungen, Netzwerke, auf die die einzelnen dadurch verwiesen werden, ähneln einem löcherigen und dünnen
     Mantel oftmals mehr als einem wärmenden Gehäuse; die Individualisierung wird zur Falle. Die Sorge, das Individuum könnte sozial
     wieder vereinsamen, in Not geraten und dann weder in der öffentlichen noch in der privaten Sphäre ausreichenden sozialen Halt
     finden, lief eher am Rande mit, als der Sozialstaat auf der Höhe war, seinem Zenit als Wohlfahrtsstaat entgegentrieb. »Die
     soziale Frage schien sich im Glauben an einen unbegrenzten Fortschritt aufzulösen.« 184
    2. Es kam anders. 185 Die moderne Erwerbsarbeitsgesellschaft durchlief ihren Scheitelpunkt in den späten 1960er Jahren und bewegt sich seit den
     frühen 1970er Jahren auf absteigender Linie. Symptome des seither kritischen Verlaufs sind Massenarbeitslosigkeit, Krise des
     unbefristeten Vertrags, Spaltung zwischen Kernbelegschaften und Peripherie, poröse Arbeitsbiographien, prekäre Arbeitsverhältnisse
     in finanzieller, sozialer oder rechtlicher Hinsicht oder in all diesen Aspekten zugleich (§ 7.3–4; § 11.4–5). Nun, wo sich
     der |182| Platzmangel an geachteten und auskömmlichen Stellen in der Sozialstruktur unübersehbar bemerkbar macht und das Erwerbssystem
     sein gutes Gewissen verliert, erfahren die darauf angewiesenen Menschen schmerzlich, daß Arbeit mehr ist als nur Arbeit und
     »gute« Arbeit nur, wenn sie die gesellschaftliche Stellung mit sich führt (§ 6). Doch genau daran herrscht eklatantes Defizit.
     Immer mehr Menschen erleben Lohnarbeit als eine bedrohliche Situation. Für die überzähligen »Nicht-Ausgebeuteten« hat diese
     Bedrohung längst handgreifliche Formen angenommen. Die bürgerliche Form der Lohnarbeit, die die soziale Problematik des neunzehnten
     Jahrhunderts gelöst zu haben schien, steht erneut in Frage.
    3. Die nun schon klassische Erwerbsformation band die Äquivalenz von Sicherheit und Kontrolle (§ 21.3) mit einer zweiten zusammen,
     die zwischen Gewährung und Rückerstattung ein

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