Bufo & Spallanzani
ganzen Welt sind Leute gekommen, um dieses neue Tanzphänomen zu sehen. Um neun Uhr ist alles für den Beginn der Vorstellung bereit. Der Maestro, der berühmte Levine, der extra aus New York gekommen ist, betritt das Pult und bekommt tosenden Beifall, woraus zu ersehen ist, welche enthusiastische Atmosphäre im Theater herrscht. Die Lichter verlöschen, man hört die ersten Akkorde von Le Pavillon d’Armide. Das Orchester, von der gleichen Erregung gepackt wie alle anderen an diesem Abend, spielt diese mittelmäßige Ouverture mit derartiger Bravour und so brillant, daß das anspruchsvolle, wohlerzogene Publikum von Buenos Aires ihm zum Abschluß begeistert applaudiert.«
»Bravo!« sagte Minolta.
»Jetzt lasse ich wieder Roma zu Wort kommen: ›Nach Fakines Choreographie muß der Tänzer, sobald er die Bühne betritt oder kurz darauf, einen grand jeté en tournant tanzen.‹«
»Was ist das?«
»Ich glaube, dabei wirft er im Sprung die Beine nach vorn und vollführt eine ganze oder auch mehrere Umdrehungen in der Luft. Laß mich mal sehen, bla, bla, sie erklärt das nicht, sie spricht von tour en l’air, pliés und anderen Schritten, aber das lese ich nicht. Ich beschränke mich auf das Drama. Silvio soll also diesen großen Wirbelsprung machen, und weißt du, was passiert? Er bleibt wie angewurzelt stehen, klebt am Boden, rührt sich nicht – vor den fassungslosen Blicken aller Zuschauer, Tänzer, Musiker et cetera. Eine Weile herrscht Schweigen, dann fängt das Publikum zuerst auf den Rängen und dann im ganzen Theater an zu buhen. Es war grauenhaft, sagt Roma. Levine steht hilflos da, ein paar Tänzer verlassen fluchtartig die Bühne. Dann wird der Vorhang geschlossen, und jemand von der Verwaltung des Colón kommt auf die Vorbühne und sagt, aufgrund der plötzlichen Erkrankung des Tänzers müsse die Vorstellung ausfallen.«
»Wie peinlich«, sagte Minolta.
»Roma bringt Silvio nach Hause und läßt einen Arzt kommen. Der Arzt sagt, bei Silvio sei eine latente Schizophrenie zum Ausbruch gekommen, und schlägt eine Behandlung mit Elektroschocks vor. Ein anderer Arzt sagt, Silvio habe einen manisch-depressiven Anfall, und rät zur Einnahme von Psychopharmaka in massiver Dosierung. Silvio wirkt die ganze Zeit, als träume er mit offenen Augen.«
»Wahrscheinlich hat er Nijinski so verehrt, daß er genau wie sein Idol durchgedreht ist«, sagte Minolta.
»Keiner kommt ihn besuchen, et cetera, als hätte er Lepra plus Aids. Nicht mal Berlinsko will noch mit ihm zu tun haben. Schließlich bringt Roma Silvio nach Brasilien zurück. Ich habe vergessen zu sagen, daß Roma, wie sie hier selbst feststellt, eine sehr reiche Frau ist.«
»Das sieht man ihr an, daß sie reich ist«, sagte Minolta.
»Woran sieht man das jemandem an?« fragte ich.
»An der Mischung aus Arroganz und Langeweile.«
»Das ist ein erbärmliches Klischee.«
»Deshalb ist es nicht weniger wahr, nur weil es ein Klischee ist.«
»Roma geht jeden Vormittag mit Silvio auf der Strandpromenade von Ipanema spazieren. Durch den Wahnsinn scheint Silvio noch schöner geworden zu sein; nicht eine Frau, die sich nicht nach ihm umdreht, sogar die, die beim Jogging vorüberlaufen, drehen den Kopf, um diesen wunderschönen Mann etwas genauer zu sehen. Da die brasilianischen Ärzte behaupten, er sei unheilbar schizophren, kann Roma nur noch in der Welt der Magie, der Macumba, des Übernatürlichen Hilfe suchen, und da gibt es noch mehr Quacksalber als unter den Ärzten. Sie geht zu sämtlichen Umbanda- und Quimbanda-Kultstätten, die man ihr nennt, konsultiert Gesundbeterinnen und Medien, die von den verschiedensten und sonderbarsten ›Gottheiten besessen‹ werden. Eines Tages bringt Roma Silvio zu einer mit großen Fähigkeiten begabten Frau namens Santinha in Caxias, an der Peripherie von Rio de Janeiro. Jetzt lese ich vor, was Roma geschrieben hat: ›Als ich Santinha sah, traf mich der Schlag. Es war ein Mädchen von etwa zehn Jahren, vielleicht noch jünger. Sie hatte lange, gelockte Haare, die ihr bis zur Taille reichten; sie war sehr blaß, mit so dünnen Fingern‹ – ich lese wortwörtlich, was Roma geschrieben hat – ›und so schmalen Handgelenken, daß man das Gefühl hatte, sie würden bei der geringsten Anstrengung brechen. Ihre Lippen waren grau, und ihre Zähne standen einzeln, jeder Zahn für sich; sie wirkte auf mich wie eine große weiße Fledermaus oder wie ein halbfertiger Engel. Silvio und ich setzten uns, sie blieb stehen,
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