Bufo & Spallanzani
mich wieder der Geschichte zu, die Roma geschrieben hatte.
»Und was ist mit diesem Carlos. Wo kann der hingeritten sein?« fragte Minolta.
»Ich habe eine Vermutung.«
Minolta fragte nicht, welche. Ich las weiter Romas Geschichte. Sie war in winziger Schrift geschrieben. Ich hasse es, von Hand Geschriebenes zu lesen. Als ich mit der Lektüre dieser zweiten Geschichte über Kröten fertig war, kam mir ein Satz von Nietzsche in den Sinn (das nächste Pseudonym, das ich annehme, falls ich mich tatsächlich noch einmal verstecken muß, wird Frederico Guilherme sein – aber dieses Thema ist erst später dran), ich wiederhole, mir kam der Satz in den Sinn: »Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur, von seiner Geistigkeit … «
3
Romas Geschichte war, wie auch jene, die Orion erzählt hatte, autobiographisch. Ich glaube, das habe ich schon gesagt. Welcher merkwürdige Zufall hatte mich darauf gebracht, ihnen dieses Thema zu geben … Ich schrieb gerade an einer Geschichte von Kröten und Menschen, aber das war kein zwingender Grund, ihnen diesen Gegenstand als Thema für unser Spiel vorzugeben.
»Na, wie ist die Geschichte?« fragte Minolta, als sie merkte, daß ich mit dem Lesen fertig war.
»Wenn sie nicht so lang wäre, könnte man sie vielleicht als eine interessante Beichte betrachten«, sagte ich. »Willst du lesen?«
»Wie schrecklich, diese Schrift«, sagte Minolta, ohne nach dem Papier zu greifen. »Und kommt eine Kröte vor?«
»Ja. Und das erklärt, warum sie so nervös wurde, als sie las, welches Thema ich für sie ausgesucht hatte.«
»Erzähl mir die Geschichte in Kurzfassung, ja?« bat Minolta und legte ihren Kopf auf meine Brust.
»Also gut, die beiden sind Tänzer. Kennengelernt haben sie sich in sehr jungen Jahren in der Ballettschule des Teatro Municipal in Rio de Janeiro. Sie war reich und er arm. Seine Mutter nähte ihm die Schuhe, in denen er tanzte. Vaslav – in Wirklichkeit heißt er Silvio – besitzt große körperliche Kraft und noch größere technische Virtuosität, er beherrscht den entrechat dix oder auch entrechat royal, der darin besteht, hochzuspringen und vor dem Aufsetzen auf dem Boden die Füße zehnmal in der Luft zu kreuzen, was nur wenige Tänzer in der Geschichte des Balletts geschafft haben. Vielleicht sogar nur Nijinski. Dann taucht in der Geschichte ein Mann auf, bei dem ich nicht genau weiß, ob er der Bösewicht ist, ein Argentinier namens Ricardo Berlinsko, Choreograph und künstlerischer Leiter des Colón in Buenos Aires, ein homosexueller ehemaliger Ballettänzer, der sich die Haare färbt.«
»Ist er der Bösewicht, weil er homosexuell ist, oder weil er sich die Haare färbt?«
»Er hat sehr dünne Beine, und wahrscheinlich hat er eine Schönheitsoperation im Gesicht hinter sich. Aber Roma gibt zu, daß er ein charmanter, gebildeter und intelligenter Mann ist.«
»Heißt sie wirklich Roma?«
»Nein. Aber ich möchte sie weiter so nennen. Der Name gefällt mir. Ricardo erlebt Silvio bei einer Probe in Rio und lädt ihn ein, mit nach Buenos Aires zufahren. Sie fahren. Dort, unter Berlinskos Anleitung, entwickelt der junge Silvio seine Technik und sein Talent weiter. Er beginnt, in der High-Society von Buenos Aires zu verkehren. Diesen Teil, in dem die Partys der feinen Leute beschrieben werden, überspringe ich. Die Partys der Reichen sind überall auf der Welt gleich. Allerdings kommt hier jemand vor, der einen interessanten Satz sagt: ›Wissen Sie, wann ich arm wäre, wenn ich wie dieser von Orson Welles gespielte Mann jedes Jahr eine Million Dollar wegwerfen würde? In sechzig Jahren.‹ Solche Verschwender gefallen mir.«
»Wer sagt das? Berlinsko?«
»Nein. Berlinsko ist Künstler. Der Satz stammt von einem dieser Stinkreichen, die nie in ihrem Leben gearbeitet haben, so wie unser Eugênio Delamare.«
»Deine Stimme klingt komisch hier drinnen, in der Lunge«, sagte Minolta, drehte den Kopf und legte ihr Ohr auf meine Brust.
»Dann kommt ein ellenlanges Stück über die dekadenten Sitten der Reichen. Aber Reiche, die Kokain schnupfen, das ist ein uraltes Klischee, also überspringe ich das. Dann kommt noch ein Teil, wo Silvio sich als Frau kleidet, das Kleid ist nach einem Bild von Gainsborough kopiert.«
»Feine Leute«, sagte Minolta.
»Von Berlinsko angeleitet, entwickelt Silvio seine große Virtuosität immer weiter. Jetzt schafft er auch den entrechat onze, den wir vielleicht entrechat Silvio nennen müßten,
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