Bufo & Spallanzani
und ich merkte, daß sie sofort erkannt hatte, daß Silvio derjenige war, der Hilfe brauchte. Mich sah sie nicht eine Sekunde an. Sie ging zu Silvio und bettete seinen Kopf zwischen ihre rachitischen Brüstchen. Da fing ihr Körper an zu zittern, und ihre Haare flogen hoch, als würden sie von einem heftigen Wind gepeitscht. Aber mit Silvio tat sich nichts, nur Santinha war ganz erschöpft und durcheinander. Mir blieb keine Zeit, über diesen ersten Mißerfolg enttäuscht zu sein. Gleich darauf ging sie aus dem Raum und kam mit einer großen Kröte in der Hand zurück –‹.«
»Da kommt die Kröte. Das hat aber gedauert«, sagte Minolta.
»Einer riesigen Kröte, die sie am Nacken festhielt – ich lese weiter Romas Text – ›oder wie diese Stelle hinter dem Kopf bei Kröten sonst heißt. Und in dieser Haltung streckten sich die Beine der Kröte, so daß sie riesengroß wurde. Als sie von Santinha in den Raum hineingetragen wurde, sah die Kröte mich an, sah mir ins Gesicht und dann zu Silvio, als wären wir ihr bekannt, als wüßte sie, wer wir waren und was wir dort wollten; in ihrem Blick lagen Verstehen, Einvernehmen, ein menschlicher, schrecklicher Blick. Santinha stellte sich mit der Kröte in der Hand vor Silvio. Stehen Sie auf, sagte sie zu Silvio. Hier, sagte sie, und reichte Silvio die Kröte, damit er sie nahm. Er griff mit beiden Händen nach der Kröte und hielt das eklige Maul des Tieres auf die entsprechende Höhe seines Gesichtes. Silvio und das Tier sahen einander in die Augen, und ich merkte, wie ein flüchtiges Lächeln über Silvios Lippen glitt. Dann führte er den Kopf der Kröte näher an sein Gesicht heran, wobei sie sich weiter in die Augen sahen, immer näher, ihre Lippen kamen sich immer näher, und voller Entsetzen und Ekel sah ich, wie die Kröte ihre endlose Zunge Silvio zu einem langen, leidenschaftlichen Kuß in den Mund schob.‹«
»Igitt! Da würde ich lieber für den Rest meines Lebens schizophren bleiben«, sagte Minolta.
»Laß mich zu Ende lesen: ›Da überflutete leuchtendes rotes Licht den Raum, als wären wir in eine Neongasröhre geraten; es leuchtete so stark, daß es mich blendete und ich ein paar Sekunden lang weder Silvio noch die Kröte, noch Santinha sah. Nach und nach normalisierte sich mein Sehvermögen wieder, und ich sah, daß Silvio, noch halb in diesem scharlachroten Licht, ehrfürchtig die Kröte Santinha zurückgab, worauf sie das Tier, das mir noch einen letzten, begreifenden Blick zuwarf, aus dem Raum trug.‹ Eine schöne Passage, das gebe ich zu.«
»War’s das?«
Ich schob die Blätter mit Romas winziger Schrift zusammen und legte sie auf den Nachttisch.
»Tja«, sagte ich, »danach wurde Silvio gesund und konnte wieder tanzen. Eine Geschichte mit Happy-End.«
»Glaubst du, die ist wahr?«
»Natürlich glaube ich das. Weißt du nicht mehr, was wir damals vor zwanzig Jahren mit der Kröte gemacht haben? Dem Bufo marinus? Ceresso? Das menschliche Gedächtnis ist schwach!«
»War er danach nicht mehr homosexuell?«
»Das sagt Roma nicht. Aber was hat das mit Glücklichsein zu tun?«
»Kann er noch mal verrückt werden?«
»Um verrückt zu werden, reicht es, gesund zu sein. Je gesünder man ist, um so schlimmer wird der Wahnsinn.« Diese Folgerung stammte von mir. »Weißt du was? Diese Bekenntnisse öden mich an.«
Aber die reizende Minolta lag schnarchend neben mir; es war kein richtiges Schnarchen, nur das leise Geräusch, das die Gerechten und die Frauen machen, wenn sie tief schlafen. Ach, ist schlafen schön!, dachte ich. Und schlief ein.
4
Als ich am Morgen zum Frühstück in den Speiseraum des Haupthauses kam (ich war spät dran, verständlicherweise, denn jetzt schlief eine Frau bei mir), waren schon alle da, selbst Euridíce, die mit Silvio und Roma (wir wollen sie weiter so nennen) an einem Tisch saß. An einem anderen Tisch Orion und Juliana. Nur Carlos fehlte.
Minolta aß immer sehr wenig und war schon mit dem Frühstück fertig, als Trindade in den Speiseraum kam und sagte, er habe Carlos und den Einsiedler zu Pferd den Berg hinunterkommen sehen. Alle standen auf und liefen auf die Terrasse, ich mit einem Teller mit Käsetaschen und Maisbrot.
Da kamen sie, jetzt schon auf der Wiese, die sich vor dem Haupthaus erstreckte, im Trab angeritten, der sich in einen sanften Galopp verwandelte, als sie uns auf der Terrasse sahen. Die beiden ritten an der Terrasse vorbei und verschwanden in Richtung Pferdeställe.
»Sie sind
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