Bugschuß
abgegeben, und damit war unsere Aufgabe erledigt. Bis zum nächsten Mal. Mehr war da nicht. Alles, was danach kam, war nicht mehr unser Ding.«
»Einige dieser Berichte haben wir gesehen, die Akten sind voll davon. Was ist nun Wahrheit und was ist Dichtung?«
»Wir haben Fakten gesammelt und …«, wieder machte er eine Pause und vergrub kurze Zeit seinen Kopf in den Händen. Er hatte das alles längst hinter sich gelassen, hatte vor Jahren ein neues Leben begonnen, nach schlechten Erfahrungen im neuen System wieder Fuß gefasst. Er hatte einen Job, es war ihm egal, welcher, hatte den Rudersport wieder- und das Laufen neu entdeckt. Das war sein Jetzt, die Gegenwart zählte. Er hatte, was er lange Zeit nicht mehr zu glauben bereit war, die Freude am Leben wiedergefunden.
Und mit einem Mal schüttete man die ganze Vergangenheit wieder über ihm aus. Mehr als 20 Jahre sind genug, um zu vergessen, war er überzeugt gewesen. Ralf Meinertz, nichts weiter als ein operativer Vorgang, einer von vielen. Klar und deutlich sah er sich mit seinem Kollegen in dem alten Wartburg sitzen, damals in Schwerin, im November. Dunkelheit, Nebel, Braunkohlegeruch, eine Knacker und ein Petermännchen im Bauch und eine Karo im Mund. Es stieß auf wenig Verständnis, wenn er hier sagte: ›Ich habe dort gut gelebt.‹ Die Jahre nach der Wende hatte er als wesentlich schwieriger, sogar bedrohlicher empfunden. Alle Sicherheit war dahin. Gleichwohl hatte es sich eingerenkt, sein Leben. Der Begriff passte – es war nicht das, was er sich erhofft hatte, aber es ging, es ging … Er wollte von all dem nichts mehr wissen.
»Wie stehen Sie heute dazu?«, fragte Tanja Itzenga.
Stöwers hatte nach wie vor den Kopf in den Händen vergraben und sah erst auf, als ihn die Hauptkommissarin nochmals aufforderte.
»Bitte? Entschuldigen Sie, ich … ich war gedanklich woanders.«
Die Hauptkommissarin ergänzte: »Sie haben Fakten gesammelt. Und daraus haben Sie Schlussfolgerungen gezogen, die Fakten interpretiert. Das kann man in den Akten nachlesen, dieser Fall ist glücklicherweise nicht den Nachwende-Schreddern zum Opfer gefallen, die damals in allen Stasi-Zentralen auf Hochtouren liefen!«
»Was heißt denn das, interpretiert …«, erwiderte Stöwers müde, »es gab da logische Schlussfolgerungen, die lagen auf der Hand!«
»Das kann man durchaus anders sehen. Begriffe wie ›unsichere Persönlichkeit‹, ›in staatsfeindliche Aktivitäten eingebunden‹ oder ›eine engere Observierung erscheint angeraten‹, selbst das berühmte ›feindlich-negativ‹ fehlt nicht. Das ist eine klare Sprache, die Sie damals angewendet haben. Und das ist mehr, als nur Fakten notieren und abliefern, oder?« Ulferts blätterte durch allerhand Unterlagen, als er dies äußerte. Schließlich ergänzte er: »Das ist das Messer, an das Sie ihn geliefert haben.«
»Was Sie da sagen, steht dort vielleicht, aber davon ist vieles Blabla! Sie müssen nicht alles für bare Münze nehmen. Und der Sprachgebrauch war nun mal so. Wir mussten ja irgendetwas abliefern!«
»Das Entscheidende, Herr Stöwers, ist doch, dass es reichte, um hauptamtliche Mitarbeiter zu veranlassen, Herrn Meinertz abzuholen. Das kann man anhand der Unterlagen alles rekonstruieren«, warf Ulferts ein.
»Das verstehen Sie eh nicht, wozu das alles wieder aufrollen?« Stöwers’ Gesichtsfarbe verhieß nichts Gutes, lange würde er diesem Gespräch nicht mehr standhalten können. Der Sarkophag, den er über seiner Vergangenheit errichtet hatte, bröckelte stark. Sarkophage waren nicht für die Ewigkeit.
»Wenn man schon mal angeworben war, dann … dann war es eine, eine Aufgabe, die man eben auszuführen hatte. Der Meinertz nahm an Sitzungen von Umwelt- und Friedensgruppen teil, er organisierte Aktionen, die eindeutig gegen unser Land gerichtet waren. Die haben aus Westmedien alles Mögliche entnommen, was die letztlich auch nur durch eine Brille gesehen haben, die westliche eben.«
»Sie mussten es aus Westmedien entnehmen«, war Ulferts erzürnt, »weil es im Osten totgeschwiegen wurde. Wie alles dort. Die Stasi-Machenschaften, die Umweltverschmutzung, die Bereicherung der Parteibonzen, die maroden Betriebe, Tschernobyl …«
»Tschernobyl! Man wusste zunächst gar nicht, was wirklich passiert war, wie schlimm das gewesen ist. Und dann wurde im Westen alles hochgespielt!«
»Hochgespielt? Heute weiß man, dass die Regierungen der Ostblockländer so lange wie möglich versucht haben, gar keine
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