Bullenball
Jule machte sich eine Notiz. »Eine Superidee.«
Marie umfasste ihre Kaffeetasse. Sie wünschte sich weit weg. Es fiel
ihr immer schwerer, bei der ganzen Sache mitzuspielen, ohne ihre wahren Gefühle
zu offenbaren. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Doch stattdessen hockte
sie hier mit Jule zusammen, trank Kaffee und half ihr bei den
Hochzeitsvorbereitungen.
Am Abend der Verlobungsparty hatte Marie verstanden, dass es zu spät
war: Sie hatte verloren. Es war vorbei. Jonas liebte nicht sie, sondern Jule.
Daran würde sie niemals etwas ändern können. Nicht Jule war die böse Königin
aus dem Märchen, die danach trachtete, Unheil über andere zu bringen, sondern
sie selbst, Marie. Alles war so schön gewesen auf dieser Verlobung. So hell und
warm und freundlich. Das Einzige, was nicht dorthin gehört hatte, waren ihre
düsteren Pläne, die Hochzeit zu verhindern. Sie war missgünstig und böse. Dabei
wollte sie doch nur geliebt werden. Von Jonas.
»Marie? Was meinst du?«
»Wie bitte?«
»Ich sagte: Mein Onkel Bertolt wird uns nach dem Empfang in die
Steverburg zum Essen einladen. Ist das zu glauben?«
»In die Steverburg?«
»Ich weiß schon, was du denkst.« Jule lachte. »Viel zu teuer für
uns. Und wohl auch zu schick. Aber er hat genug Geld, das kann er sich leisten.
Warum also nicht?«
»Ist doch toll.«
»Find ich auch.« Jule vertiefte sich wieder in ihre Zettel. Marie
beobachtete sie. Und ihr wurde klar, dass sie Jule die Wahrheit sagen musste.
Es war wichtig, dass sie Maries Gefühle kannte. Es musste laut ausgesprochen
werden. Am besten sagte sie es jetzt gleich.
Es war ja auch ganz einfach: Ich liebe Jonas, mehr als alles andere.
Ich ertrage es nicht zu sehen, wie glücklich ihr seid. Diese ganze Hochzeit
zerreißt mir das Herz. Ich halte das nicht aus.
Und wenn das erst mal gesagt war, konnte sich Marie aus dem Leben
von Jule und Jonas zurückziehen. Sie würde nicht mehr Trauzeugin sein, sie
würde nicht einmal zur Hochzeit kommen. Sondern ihren eigenen Weg gehen.
Abschied nehmen. Das war die einzige Möglichkeit, unbeschadet aus der ganzen
Geschichte herauszukommen. Sie musste Jule die Wahrheit sagen. Sich selbst
retten.
»Du, Jule …« Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Was ist denn?«, kam es unbekümmert zurück.
Marie holte Luft. »Also … da gibt es etwas, das ich dir …«
Die Haustür krachte ins Schloss. Sie zuckten zusammen. Jule wandte
sich zur Tür.
»Hallo? Wer ist da?«
Keine Antwort. Stattdessen ein Rumpeln im Hausflur. Ein leises
Fluchen, und kurz darauf schlurfte Jules Bruder in die Küche. Niklas pfefferte
seine Schultasche in die Ecke, ohne von den beiden erkennbar Notiz zu nehmen.
Dann ging er zum Ofen, nahm eine Gabel und stocherte mit langem Gesicht in dem
Auflauf herum, der dort warm gehalten wurde.
»Was machst du hier?«, wollte Jule wissen. »Bist du nicht in der
Schule?«
»Ist heute ausgefallen.« Er schloss die Ofenklappe und warf die
Gabel in die Spüle. Dann kramte er eine Chipstüte hervor und steuerte die Tür
zum Wohnzimmer an.
»Was soll das heißen: ausgefallen? Was ist denn passiert?«
Im Vorbeigehen griff er nach einer Colaflasche und klemmte sie sich
zu den Chips unter den Arm. »Da war ein Amoklauf.«
»Was sagst du da?«, rief Jule.
Selbst Marie vergaß für einen Moment alles andere.
»Im Anne-Frank-Gymnasium?«
Niklas hob träge die Schultern und schlurfte weiter.
»Niklas!«, rief Jule.
Er machte eine Geste, als wolle er Schmeißfliegen vertreiben. »Na,
kein richtiger Amoklauf. Nur so eine Ankündigung. Aber die Polizei hat trotzdem
alles dichtgemacht.«
»Aber wer war das denn? Jetzt bleib doch mal hier!« Jule sprang auf
und stellte sich ihm in den Weg.
Er verdrehte die Augen und lehnte sich an den Kühlschrank.
»Jetzt guck mich nicht so an, als wäre ich eine Zumutung. Ich möchte
nur wissen, was da los war. War diese Drohung denn ernst gemeint? Was sagt die
Polizei dazu?«
»Keine Ahnung«, blaffte er. »Ich weiß nur, dass wir heute Nachmittag
freihaben.« Er drückte sich an ihr vorbei und verschwand im Wohnzimmer. Kurz
darauf drang der Lärm einer Gerichtsshow herüber, in der sich Laiendarsteller
gegenseitig anschrien.
Jule war völlig perplex. »Was sagt man dazu?«, meinte sie und
schloss die Tür zum Nebenraum. »Im Anne-Frank will einer Amok laufen.«
»Bestimmt war das nur ein schlechter Scherz«, meinte Marie. »Du
kennst die Jungs doch, die finden so was witzig. Wie damals bei deinem
Abschluss in der
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