Bullenpeitsche: Kriminalroman (Droemer) (German Edition)
ignoriert mich.
»War aber neulich mal ganz schön knapp. Fast wär’ ich auch schon unter der Grasnarbe gelandet.«
Ich ziehe nochmal an meiner Zigarette, dann werfe ich sie in den Sand und trete sie aus.
»Redest wohl nicht mit jedem, was?«
Der Spatz piept nochmal, schüttelt sich und fliegt weg.
Aha.
Ich schätze, dass ich noch mindestens eine halbe Stunde hier warten muss. Ich setze mich ins Auto.
Musik an.
Nee.
Musik wieder aus.
Oder doch: Musik an.
Nein, geht nicht.
Aus die Maus.
Augen zu.
Warten.
Den Herzschlag unter Kontrolle halten.
Das ist gar kein Friedhof, hörst du?
Das ist nur ein hübscher Park.
Ein besonders stiller Park.
Achtung, Atmen nicht vergessen.
Irgendwo läuten die Glocken einer Kapelle.
Also. Das mit dem Entgegengehen wird heute doch nichts mehr.
* * *
»So, Chef«, sagt der Brückner und schiebt mich durch die Drehtür, »jetzt geh’n Sie aber ma’ vor.«
Von außen ist das Krankenhaus ein hoher, mächtig dunkler Bau, innen blendet das Neonlicht, und die Decken hängen tief. Das graue Linoleum quietscht unter unseren Sohlen, in manchen Ecken stehen Gummibäume, in manchen von Infusionsständern flankierte Plastikstühle. Ich will sofort rückwärts wieder raus, aber erstens stehen hinter mir ein paar tapfere Männer, die mich gerade auf einer Beerdigung vertreten haben, und zweitens liegt irgendwo da oben der Inceman, der verdammt nochmal Besuch verdient hat.
Ich gehe also vor und warte am Informationstresen, bis einer kommt. Der Calabretta, der Schulle und der Brückner lehnen an der Wand neben mir und sehen aus wie verdeckte Ermittler. Was sie im Moment ja auch irgendwie sind.
Hinter dem Tresen erscheint ein gelangweilt freundlicher junger Mann.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir möchten unseren Kollegen Inceman besuchen«, sage ich. »Bülent Inceman.«
Der junge Mann wirft einen kurzen Blick auf seinen Computerbildschirm, tippt was ein.
»6. Stock«, sagt er dann, »Zimmer 623. Wenn Sie aus dem Fahrstuhl kommen, gehen Sie nach rechts und melden sich bitte im Schwesternzimmer.«
Okay. Und wieder: Atmen nicht vergessen.
Wir mogeln uns an ein paar Infusionsständern vorbei und verschwinden im Aufzug. Ich drücke den Knopf mit der Nummer 6 drauf. Wir fahren nach oben. Der Aufzug spuckt uns aus, wir gehen nach rechts. Quietschendes Linoleum. Hier. Das Schwesternzimmer. Guten Tag. Wir sind der Besuch. Die Schwester zieht die Augenbrauen hoch, auch wenn es dafür überhaupt keinen Grund gibt.
»Na. Dann kommen Sie mal mit.«
Das Zimmer vom Inceman hat ein Vorzimmer. Da sollen wir uns die Hände waschen. Und, bitte:
»Nicht so lange bleiben, Ihr Kollege ist noch sehr schwach. Aber es wird ihm sicher gut tun, Sie zu sehen.«
Tür auf, wir gehen rein. Es ist warm in dem Zimmer. Und dämmrig. Die Jalousien sind runtergelassen, die Fenster zu.
Der Inceman sieht dünn aus in diesem Bett, vielleicht weil es so hoch ist und so viele Knöpfe und Schläuche und Kabel und Apparate dran sind. Seine Haare hängen ihm in dicken Strähnen in die Stirn, seine Wangen sind unrasiert und wirken hohl, als wäre er schon zwei Wochen hier und nicht erst zwei Tage. Er blinzelt mit glasigen Augen in Richtung Tür, er sieht uns, er erkennt uns, aber ein Lächeln wäre zu viel verlangt.
Denn auf der rechten Seite, da wo früher mal sein Arm war, ist jetzt nur noch ein dicker Verband.
* * *
Die Ärzte sagen, es muss ein großer Splitter der Fensterscheibe gewesen sein, der seinen Arm in Stücke gerissen hat. Das Fenster ist zersprungen, als der Molotow-Cocktail da durchflog, und zwar genau neben der Schulter vom Inceman. Wäre es ein sauberer Schnitt gewesen, hätten sie den Arm wahrscheinlich wieder drannähen können, aber so, nein, da konnten sie leider nichts mehr machen.
Ich stehe auf der linken Seite seines Bettes, er hält meine Hand. Die ganze Zeit, in der wir da sind, lässt er meine Hand nicht los. Der Calabretta steht auf der anderen Seite und streicht ihm manchmal ein bisschen die Haare aus der Stirn, meistens hat er einfach die Hand auf seinem Kopf. Der Brückner sitzt am Fußende des Bettes, er hält sich am Bettgestell fest und den Blick gerade. Der Schulle sichert das Fenster. Keiner von uns kann reden. Wir sehen den Inceman an, wir fassen ihn an, wir versuchen, eine Bank zu sein. Und doch ist es egal. Wir können ihm nicht helfen. Wir haben ja auch keinen Arm zu viel, den wir ihm abgeben könnten.
Ich streichle seine Hand. Er kuckt mich an. Dann die
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