Bullenpeitsche: Kriminalroman (Droemer) (German Edition)
Kaffee, lege mich nochmal ins Bett und lese mir die Geschichte über meinen Chef in aller Ruhe durch. Und ich muss sagen: Frau Micoud hat ganze Arbeit geleistet. Sie hat den Journalisten eine Menge erzählt, und das hört sich alles sehr, sehr eklig an.
Draußen vor der offenen Balkontür zwitschern die Vögel gen Himmel. Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz vor sieben. Vielleicht sollte ich nach Teufelsbrück fahren.
* * *
An Deck ist außer mir und einem alten Herrn mit einer Prinz-Heinrich-Mütze kein Mensch, alle anderen ducken sich vor dem längsten Wetter der Welt. Der alte Herr und ich sind die Einzigen, die das Gesicht in die sprühende Feuchtigkeit halten. Mir tut das gut. Und meinem Deckgenossen offensichtlich auch. Er hat die Augen geschlossen, lächelt die meiste Zeit vor sich hin, ab und an gähnt er herzhaft. Macht einen schiefen Mund beim Gähnen.
Manchmal, in diesen wenigen zarten Momenten, sehe ich mir die Leute an, wie sie aussehen, wenn sie so müde sind, und dann denke ich: Menschen. Irgendwie rührend. Dann möchte ich sie ins Bett bringen und füttern und bei ihnen sein.
Ich verlasse das Deck und setze mich auf die Treppe, die zum Unterdeck führt. Ich höre den Motor der kleinen Fähre grölen, über mir grauen die Wolken, am Ufer liegen die großen Schiffe unter den Containerkränen und warten darauf, sich mit Lasten beladen zu lassen. Schiffe. Auch irgendwie rührend.
In Finkenwerder steige ich um, fahre noch eine Station bis ans gegenüberliegende Ufer, und als ich am Anleger die Fähre verlasse, sehe ich sie schon. Naima steht am Strand und weint. Sie hat ihren feinen Mantel eng um ihren zarten Körper gezogen, sie hält den Mantel mit ihren Armen in der Taille fest, auf eine Art, wie das nur sehr schlanken Frauen möglich ist und die immer aussieht, als würden sie sich selbst umarmen. Erst begreife ich nicht, was da los sein könnte, warum sie weint, es dauert einen Moment, bis ich vom Steg zu ihr runtergestiegen bin und bis ich sehe, dass der Kleine Donner nicht bei ihr ist. Sie sitzt nicht mit ihm unterm Steg, so wie die beiden das sonst immer machen. Sie steht alleine am Strand und registriert mich kaum, als ich mich neben sie stelle und versuche, ihren Blick zu erwischen.
»Was ist passiert?«, frage ich.
Sie antwortet nicht.
»Kann ich helfen? Kann ich irgendwas tun?«
Keine Antwort. Nur eine große Einsamkeit, die da zu mir rübergekrochen kommt. Ich fasse mir ein Herz und lege ihr meinen Arm um die Schulter, und der Arm wird dankend angenommen. Naima dreht sich zu mir, lehnt sich an mich, ich nehme sie in beide Arme und halte sie fest. Ihr Weinen hört dadurch nicht auf, aber irgendwann fängt sie leise an zu reden. Der Kleine Donner hat sich gestern Abend auf dem Nachhauseweg dünne gemacht. Hat das Fell und die Ohren eingezogen, ist mit dem Kopf aus dem Halsband geschlüpft, ist über die Elbchaussee gerannt und hat sich vor ein Auto geschmissen. Der Hund war ungewohnt schnell, so schnell, dass das Auto nicht mehr bremsen konnte. Und er war sofort tot.
»Ich hab ihn noch gestern Nacht im Garten vergraben«, sagt sie. Bei der Wachholderhecke, an der er so gerne lag. »Und jetzt bin ich alleine.«
»Was ist mit deinem Mann?«, frage ich, auch wenn ich mir vorgenommen hatte, nicht nach ihm zu fragen.
Sie löst sich aus meiner Umarmung. »Der konnte mit dem Hund nie etwas anfangen.«
Sie sieht mich an.
»Ich sagte dir doch schon, dass er kein guter Mensch ist. Kann ich eine von deinen Zigaretten haben?«
»Du rauchst doch gar nicht«, sage ich und halte ihr das Päckchen mit den Luckys hin.
»Stimmt«, sagt sie. Sie hat aufgehört zu weinen, sie wischt sich die Tränen weg. »Normalerweise rauche ich nicht. Aber normalerweise denke ich auch nicht darüber nach, meinen Mann zu verpfeifen.«
»Dann lass es«, sage ich.
»Das Rauchen?«, fragt sie.
»Das Verpfeifen«, sage ich und gebe ihr Feuer. »Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, dass du deinem Mann in den Rücken fällst.«
»Das bist du nicht«, sagt sie. »Das hat er ganz alleine hingekriegt.«
Ich zünde mir auch eine Zigarette an und schaue den Möwen und den Enten zu, die vor uns im Sand am Wasser auf und ab watscheln.
»Na dann«, sage ich.
Sie zieht an ihrer Zigarette und muss husten.
»Als wir uns zum ersten Mal gesehen haben«, sagt sie, »warum warst du an dem Tag hier?«
»Zwei Polizisten sind erschossen worden«, sage ich, »am Jenischpark.«
Sie nickt. »Das habe ich mir gedacht.«
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