Bushido
jedenfalls, dass im Islam geschrieben steht, jeder Mensch hätte während seiner Zeit auf Erden einen Engel auf den Schultern sitzen. Glaubt es mir oder nicht, aber ich kann meinen Schutzengel spüren. Ich habe zum Beispiel oft das Gefühl, dass gerade jemand hinter mir steht, oder dass jemand an mir vorbeiläuft, und wenn ich mich um-drehe, ist niemand da, ich spüre nur einen leichten Luftzug. Früher, als kleines Kind, war diese Wahrnehmungsgabe noch wesentlich ausgeprägter. Auf Partys wurde häufig Gläserrücken gespielt. Das hat ja sicher jeder mal gemacht. Ich nie. Niemals. Intuitiv wusste ich, dass es eine Sünde gewesen wäre. Überlegt doch mal mit logischem Menschenverstand, was man da eigentlich macht? Man ruft nach den Geistern, und nicht nach den guten, sondern den bösen Geistern. Ganz ehrlich: Wer das macht, spielt mit seinem Leben. Im Koran steht, dass es so-genannte »Dschinns« gibt auf der Welt. Das sind böse Geister, mit denen man besser nichts zu tun haben sollte. Ihr glaubt mir nicht? Dann erzähle ich euch eine kleine Geschichte. Ihr werdet staunen.
Nach der Geburt meines kleinen Bruders sind wir in die Türkei zu unseren Verwandten geflogen. Meine ganze Familie, auch die Familie meines Stiefvaters, hat dort in diesem kleinen Dorf gechillt. Nach zwei Tagen plötzlich wurde mein Bruder krank. Er fing an zu schreien, hatte Schüttelfrost und Fieber. Zuerst dachten wir, er hätte sich eine kleine Sommergrippe eingefangen. Der Arzt kam ins Haus, gab ihm ein paar Medikamente und wir machten uns keine großen Gedanken. Doch mein Bruder wurde von Tag zu Tag kränker. Er war ja fast noch ein Baby. Wir machten uns natürlich die größten Sorgen und ließen alle Kinderärzte aus der Umgebung kommen, doch keiner konnte ihm helfen. Meine Familie war total verzweifelt, meine Mutter heulte den ganzen Tag. Ich meine, was willst du auch machen, wenn selbst die Ärzte keinen Rat wissen und das Fieber deines Jungen immer weiter steigt.
Meine Oma lud dann den »Hodscha« des Dorfes zu uns nach Hause ein. Hodschas sind Vorbeter in der Moschee und im Islam sehr angesehene Persönlichkeiten. Der Typ kam also zu uns, setzte sich ans Krankenbett meines Bruders und las ihm aus dem Koran vor. Nach ungefähr einer Stunde fing mein Bruder richtig krass an zu weinen, nicht nur mal so ein paar Tränen, sondern richtig hardcore wähhh, wähhh, wähhh. Das ging die halbe Nacht. Und dann, als es draußen schon langsam hell wurde, hörte er, wie aus dem Nichts, einfach auf zu schreien. Totale Ruhe. Wir rannten natürlich sofort in sein Zimmer, um nach ihm zu sehen, und da lag er, ganz ruhig, mit einem Lächeln im Gesicht. So schnell er krank geworden war, so schnell wurde er auch wieder gesund. Ist das zu fassen?
Später fanden wir heraus, warum mein Bruder so schwer erkrankt war. Meine Tante hatte einen bösen Blick auf ihn geworfen, weil sie selbst keine Kinder bekommen konnte. Das muss man sich mal vorstellen: Mein Stiefvater bekam einen Sohn und seine eigene Schwester war so neidisch auf ihn, dass sie dem Kind den Tod wünschte. Überkrass! Erst als der Prediger aus den Suren gelesen hatte, wurde der Fluch wieder von ihm genommen. Wir legten ihm sofort das »Auge der Fatima« um, ein Amulett in der Form eines Auges, das ihn vor den bösen Geistern schützen sollte. Fatima war ja die jüngste Tochter des Propheten Mohammed, deren eigene Kinder als einzige das Erwachsenenalter erreichten. Deswegen gilt sie im Islam als eine Art Schutzpatronin. Es funktionierte. Mein Bruder wurde geheilt. Wahrscheinlich muss man aber solche Situationen selbst durchgestanden haben, um wirklich daran zu glauben.
Solche Geschichten haben wir ständig in unserer Familie erlebt. Meine türkische Oma träumte eines Nachts, dass ihrem Sohn etwas Schlimmes zustoßen würde. Mein Stiefvater, Anfang 20, war damals irgendwo in Europa auf Studienfahrt unterwegs, ich weiß nicht mehr genau, in welchem Land. Auf jeden Fall war er nicht in Deutschland. Meine Oma saß also in ihrem kleinen Dorf in der Türkei und träumte eines Nachts vom Tod ihres Sohnes. Am nächsten Morgen schickte sie ihm per Kurier eine Fahrkarte ins Hotel und befahl ihm, unverzüglich nach Deutschland zurückzukommen. Mein Stiefvater hatte zwar kein Bock drauf, aber noch weniger wollte er Stress mit seiner Mutter haben. Auch wenn sie in der fernen Türkei wohnte. Er stieg also grummelnd in den Zug und fuhr nach Hause. Seine Studentenfreunde machten sich wenige Tage später ganz
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