Butenschön
hörte ich den Alten krächzen.
»Malewski?«, fragte ein Dicker mit Halbglatze und fröhlichem Kalbsgesicht.
»Eine Mitarbeiterin von früher«, kam Frau Butenschön ihrem Mann zuvor. »Aus irgendeinem Grund fühlt sie sich ungerecht behandelt und verlangt eine Entschuldigung oder was auch immer von Albert. Schon seit Jahrzehnten liegt sie ihm damit in den Ohren.«
»Lästig, so was«, nickte der Dicke.
»Lästig, allerdings.«
Ich zog weiter. Frau Malewski hielt als Gesprächsthema nicht lange vor. Lieber von netten Dingen reden, von den Annehmlichkeiten des Lebens, dem Hier und Jetzt. Lasst die Vergangenheit ruhen. Die Toten sind tot, unser ist die Zukunft.
Wie aber sah die Zukunft eines 100-Jährigen aus? Was dachte so einer, dem der Sensenmann jederzeit in die gute Stube treten konnte? Zu gerne hätte ich mich mit Albert Butenschön unterhalten. Aber hier, während des Fests? Unmöglich.
Frau Butenschön schlug vorsichtig gegen ihr Glas. Junges Gemüse formierte sich zu einem Geburtstagsständchen. Susanne winkte mich in die Küche, wo der Gesang nur schwach zu vernehmen war. Während wir die Nachspeisenplatten zusammenstellten, erkundigte sie sich noch einmal nach den verschwundenen Einladungen. Ob ich auch wirklich im Sekretär nachgeschaut hätte. Ob die Schubladen tatsächlich verschlossen gewesen seien. Und ob ich …
»Was soll das?«, unterbrach ich sie. »Hältst du mich für einen Trottel? Dort oben waren keine Einladungen, und damit Punkt. Butenschöns Urenkel hätte mich übrigens fast erwischt. Dass du es nur weißt.«
Enttäuscht verließ sie die Küche. Ich tippte mir an die Stirn. Was lag der Frau nur an den bescheuerten Einladungen?
Im Saal wurde den Sängern eine Zugabe nach der anderen abverlangt. Da sie keine hatten, wiederholten sie einzelne Strophen ihres Liedes. Ich erkannte die Mutter von Nörgelmoppel. Vielleicht war sie vorhin nur aus Nervosität nicht in der Lage gewesen, ihrem Sprössling die Grenzen aufzuzeigen.
Endlich war auch diese Nummer vorbei. Die Butenschöns applaudierten stehend. Dem Jubilar hatte man einen Gehstock gereicht, an dem er mühsam Halt suchte. Er klatschte, indem er mit der linken Hand auf den Rücken der rechten schlug, die sich um den Knauf des Stocks klammerte. Dabei stand sein Mund ein wenig offen. Jutta hatte recht: Warum tat sich der Mann das an?
Zur Stärkung bekam er von seiner Frau eine Mousse au chocolat gereicht. Die Nachspeisen fanden kaum weniger Anklang als die Gesangsdarbietung. Mit den ersten Schokoflecken auf hellem Festtagsanzug war in Kürze zu rechnen. Achim verschwand in der Küche, die Espressomaschine anzuheizen. Dabei wollte er rasch einen Mitbewohner ansimsen, wie es seinem Hund gehe. Dem mit den schönen Augen. Ich hätte Susanne gerne gefragt, welchen der Anwesenden sie kannte, aber sie schien nicht in der Laune für ein entspanntes Gespräch.
Kurz danach stand schon wieder einer auf, um eine Rede zu schwingen: der Kalbskopf vom Tisch des Geburtstagskindes. Wenn man sah, wie Frau Butenschön ihre Brauen in die Höhe zog, konnte man davon ausgehen, dass dieser Programmpunkt nicht im offiziellen Ablauf vorgesehen war. Den Dicken kümmerte das nicht, er sprach mit raumgreifendem Lächeln und waghalsigen Metaphern von seiner lebenslangen Bewunderung für den großen Albert Butenschön – genau so sagte er es: der große Albert Butenschön –, die er sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Auch wenn sie von seinem Vater stammte. Die Bewunderung, nicht die Milch. Sein Vater, das war Butenschöns engster Mitarbeiter und Freund in der guten alten Danziger Zeit, wo er, der Dicke nämlich, das Licht der Welt erblickt hatte. Unter dem Sternenhimmel Danzigs. Viel zu schnell sei diese Zeit verstrichen, und ihm persönlich fehle jede Art der Erinnerung, weil Kleinkind damals, aber die Erzählungen seines Vaters! Der ja nun leider auch schon lange nicht mehr unter den Lebenden weile.
»Nun bin ich selbst nicht mehr der Jüngste«, rief der Kalbskopf heiter, »weshalb ich mir erlaube, in den Fußstapfen und mit Erlaubnis meines Vaters auf Professor Albert Butenschön anzustoßen. Dazu habe ich uns, lieber Albert, eine Flasche echtes Danziger Bernsteingold mitgebracht, wie du es damals, in der guten alten Zeit, so oft mit Vater getrunken hast.« Er brachte eine Flasche mit Goldetikett zum Vorschein, die er hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte, und zeigte sie den Gästen. Sein Lohn: Bravo-Rufe und Applaus. Der alte
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