Butenschön
Stufen zählte. Rechts und links führte der Leinpfad am Ufer entlang, geradeaus ging es zu den Wohnheimen des Neuenheimer Klinikareals. Eben wollte ich die Treppe mit einem gewaltigen Satz bezwingen, als ich stockte. Aus dem Schatten des ehemaligen Trafohäuschens rechterhand erhob sich eine Gestalt. Das dichte Gesträuch zitterte, die Gestalt zitterte, und ihre vorgestreckten Hände, die sich um einen Gegenstand klammerten, zitterten am allermeisten. Erinnerungen an die Begegnung Covets mit Koschak wurden wach.
»Sie sind weg!«, schrie der Zitterer. »Alle! Ich hab sie verjagt!« So scheppernd die Stimme auch klang, ich erkannte sie: Es war die meines Freundes Friedhelm Sawatzki.
»Fatty!«, rief ich und sprang die Stufen hinab. »Was ist passiert? Wer hat geschrien?«
»Ich nicht!« Er machte einen Schritt nach vorne, so dass das gelbe Licht der Wehrsteglampe auf ihn fiel. Sein aschfahles Gesicht wurde sichtbar, das bebende Kinn und in seinen Händen – eine Pistole.
»Wo hast du denn die her?«, fragte ich völlig verdattert. Fatty mit einer Waffe, das war so unvorstellbar wie Schlittschuhfahren auf dem Neckar.
»Ehrlich, ich hab nicht geschrien«, wiederholte er. »Sie war das!«
»Wer, sie? Und wo ist der Typ, den ich verfolgt habe?«
»Weg.« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Auch die Hände sanken immer mehr gen Boden. Gleich würde er umkippen.
Stattdessen raschelte es erneut, und aus den Sträuchern der Uferböschung kam eine Frau nach oben geklettert. Sie schluchzte. An ihrer Wange klebte Blut; ob es von den Dornen oder von Misshandlungen herrührte, war nicht zu entscheiden. Jedenfalls sah sie wie jemand aus, der ganz lange nicht geschlafen hatte und nun dringend ein Bett brauchte. Und ein Bad. Und jede Menge Kopfschmerztabletten.
»Da!«, hauchte Fatty fassungslos.
Heulend stand die Frau vor uns. Ich schätzte sie auf Ende 30. Die Augen blutunterlaufen, das lange Haar wirr um den Kopf.
»Kann mir jemand verraten, was hier los ist?«, fragte ich.
Fatty glotzte, als hätte ich mich nach seinem Namen erkundigt. Dann schluckte er und brüllte mich an: »Ja, erkennst du sie nicht, du Idiot?«
»Wen? Die da?«
»Verdammt, das ist Romana, die wildeste Hure von Heidelberg!«
Dann fiel er tatsächlich in Ohnmacht.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
27
»Und? Haben Sie die Unterlagen?«, fragte Evelyn Deininger. Ihre Stimme war der berühmte Flitzebogen, gespannt bis zum Zerreißen.
Ich verneinte.
»Bitte?«
»Tut mir leid. Ihr Russe ist nicht erschienen.«
»Scheiße noch mal!«
Knödelchens Enttäuschung entlud sich in einer Salve von Flüchen. Ich hielt den Telefonhörer ein wenig von meinem Ohr weg und wartete, bis sich die Dossenheimer Wutwogen geglättet hatten.
»Was heißt das, er ist nicht erschienen?«
»Dass wir gewartet haben, bis halb elf, und er kam nicht.«
»Warum nur bis halb elf?«
»Weil dann einige Ereignisse eintraten, die uns zum Rückzug zwangen. Was da genau passiert ist, kann Ihnen nur Herr Koschak erklären. Wenn überhaupt.«
»Verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht, Frau Deininger. Passen Sie auf, ich kläre die Lage jetzt, soweit möglich, und melde mich morgen früh bei Ihnen. Die Übergabe jedenfalls hat nicht geklappt, warum auch immer. Wir müssen es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen.«
Frustriert legte sie auf. Ich schnappte mir eine Schnapsflasche von Fattys schlesischer Oma, ein paar Wassergläser dazu und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Eva, Fatty und Koschak saßen um den Tisch herum, auf dem eine Kanne Tee dampfte. Zwischen leeren Bechern lag die Pistole. Die Frau vom Neckarufer kauerte mit angezogenen Beinen auf dem Sofa, eine Wolldecke um den Körper geschlungen.
»Ich muss nicht wissen, was hier gespielt wird«, sagte Eva. »Müssen muss ich nicht. Aber interessieren würde mich schon, wer meine Handtücher vollsifft.«
Das war auf Koschak gemünzt, dessen Nase immer noch mehr Blut führte als der Neckar Wasser.
»Gerne«, sagte ich. »Aber vorher erklärt mir dein Freund, was das hier ist.« Ich nahm die Pistole vom Tisch und hielt sie ihm vors Gesicht.
»Schau nicht so blöd!«, gab er ärgerlich zurück. Ja, Fattys Mundwerk funktionierte wieder, und seinen Kreislauf hatte er auch unter Kontrolle. Bloß das mit der gesunden Hautfarbe würde noch ein Weilchen dauern. »Sei doch froh, dass ich das Ding dabeihatte. Wer weiß, wie es ohne
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