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Butterbrot

Butterbrot

Titel: Butterbrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Barylli
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begannen.
    Es zog mein Gesicht zu ihrem Gesicht und ihren Mund zu meinem Mund, und wenn wir nicht in Venedig gewesen wären, das ja extra für diesen Kuß gebaut worden war, hätten uns die Ober sicher auseinandergetrieben.
    So aber sagte einer im Vorbeigehen leise lachend: »Dio mio ... ecco l'amore« - und brachte es damit kurzerhand auf den Punkt.
    Auch das ist einer der geheimen Zauber dieser Stadt -all ihre Verschnörkelungen und Verzierungen scheinen nur die Aufforderung zu sein, klare, deutliche Gegenpole ohne falschen Zierrat zu setzen, und das ist immer noch ein minutenlanger Kuß.
    »Mein Herr, was machen Sie mit mir«, hauchte sie, und »nichts, was wir nicht beide wollen«, flüsterte ich und war mir nicht sicher, ob es vielleicht doch so etwas wie Weingeistbildung durch intensives Küssen gibt -ich brauchte nämlich eine gewisse Zeit, um mich wieder auf meinem Stuhl zurechtzufinden, der Zeugnis davon ablegte, daß ich nach wie vor auf dieser Erde lebte.
    »Ja, so ist das« - sagte sie seufzend und ließ sich lächelnd einen zweiten Martini bringen.
    Wir sahen uns an und waren froh, wieder so nahe beisammen zu sein, wie wir es uns schon vor einer Woche gewünscht hatten, als wir zum ersten Mal nebeneinander standen.
    Ein leichter Wind zog durch die Arkaden und blähte die hellfarbenen Sonnenvorhänge auf, die zwischen die Säulen gespannt waren wie das Hauptsegel auf Errol Flynns Lieblingspiratenschiff. Die Jugenderinnerungen suchenden alten Amerikanerinnen lächelten uns zu und konnten daheim in West Virginia erzählen, sie hätten Ingrid und Victor gesehen, und in lichtschwebende Hoffnungen schob sich in zuckerpistazienhafter Süße der Violinenton des Stehgeigers, der die Kapelle anführte, die vor unserem Tisch eine Verehrung der Sentimentalität zelebrierte.
»Schau mich bitte nicht so an ...
Du weißt genau, ich kann
Dir dann nicht widerstehen ...
La da da - la la da da la la da da di di la la
di di - la la da di la la di da ...«
    Erwachsene Menschen beginnen, in solchen Sekunden Texte mitzusingen, von denen sich ihr Wachbewußtsein niemals hätte träumen lassen, daß sie in der Lade gelandet waren, auf der vorne das Schild »Merken: wichtig!« angebracht war - und all dies tun sie ohne Scham und Reue.
    Warum auch nicht - fragte ich mich - wer will denn wirklich so überheblich sein zu bestimmen, was wert ist und was unwert, in uns aufgehoben zu werden - in den Wasserflaschen unserer Herzen, mit denen wir durch die Wüste wandern.
    Das einzige Kriterium, das ausschlaggebend sein sollte, wenn es um die Frage des Denkwürdigen geht, ist doch dasjenige, ob es uns zärtlich und liebevoll macht, was wir uns merken oder nicht.
    Wenn es einem alten Schmachtfetzen aus den fünfziger Jahren gelingt, einen Ehemann dazu zu bringen, seiner Frau wieder einmal einen überraschenden Kuß auf die Augen zu geben - was sie in ihren ersten Nächten so sehr liebte und schon für immer verloren glaubte - dann hat der Schmachtfetzen dreihundert -siebenundsiebzigtausendmal mehr Recht und Bedeutung als das »wichtigere« Oratorium von »Händel«.
    Oder - der Gartenzwerg, der mich gütig stimmt, ist mir am Hintern lieber als die Pflichterfüllung an Ehrfurcht, die einem beim Anblick der Mona Lisa vorgeschrieben wird.
    »La vie en rose« war jetzt und hier der einzig mögliche Zustand, und das Flattern der Segel trug uns in das Land der verspielten Zärtlichkeiten und kandierten Erinnerungen, die wir von Sekunde zu Sekunde anhäuften und die uns noch in dreißig Jahren bei diesem Lied die Tränen in die Augen küssen werden, weil die
    Zärtlichkeiten der ersten Stunden wie Wegweiser sind auf der Milchstraße der himmlischen Begegnungen. »Ach, Maria, es ist so schön, daß es dich gibt!«
    »Und so schön, daß es dich gibt.«
    Zeit haben und schweben wie Seifenblasen auf einem Kinderfest im Freien ...
    Unendlichkeiten brauchen, auf der Reise zum anderen
    - und als Sternschnuppe eines Kusses in seiner Atmosphäre verglühen - wortlos die Reime der Zärtlichkeiten aneinanderfügen bis zu einem tonlosen ...
    »La vie en rose ...«
    Das Klappern der kleinen Löffel, die an den Nebentischen auf ihren Untertassen zu liegen kommen ... das nah-ferne Gurren der Vögel - ihr plötzliches Flattern im Abendwind.
    ... ein kleines Mandelgebäck, das von einem vorbeigetragenen Tablett herüberduftet - die wartenden, weißen Jacken der pausierenden Ober, die, in die offenen Türen gelehnt, alles wissen und alles verstehen ... Wir saßen

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