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Butterbrot

Butterbrot

Titel: Butterbrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Barylli
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mindestens eine Stunde, ohne zu reden und ohne zu fragen - ohne Eile und ohne Verpflichtung. Dasein genügte, und nichts war uns wichtiger, als dies zu erfahren, daß Dasein genügt, wenn man wirklich dort ist, wo man ist, und nicht seinen Bruder vorbeischickt, der die eigene Abwesenheit zu entschuldigen hat.
    Ich hatte mit einem mal wieder das Gefühl, das ich das letzte Mal in mir gespürt hatte, als ich im Alter von sieben Jahren hier mit meinen Eltern spazierengegangen war.
    Ich weiß es noch ganz genau, als ob es gestern gewesen wäre -
    Wir hatten im Sommer eine Italienreise gemacht und waren als Abschluß in Venedig gelandet. Der erste Abend, an dem wir von unserem Hotel aus zum Essen gingen, lag warm glühend zwischen den Häusern, die die Sonne einen Tag lang aufgeheizt hatte und die jetzt ein Rückzugsgefecht gegen die ersten Aufklärer der Nacht führten. Aus den Restaurants drang das Lachen der Menschen, die sich wohl fühlten, und über den Platz wehte genauso wie heute die Melange der verschiedenen Lieder, die die Kapellen in den Sternenhimmel schickten.
    Ich ging mit staunenden Augen durch all diese Schönheit und träumte davon, verliebt zu sein.
    Ich weiß schon - daß ein Kind eigentlich nicht wissen kann, daß es vom Verliebtsein träumt, aber später wurde mir klar, daß es genau diese Sehnsucht war, die ich damals in mir trug. Ich wollte diese Überfülle an Liebkosungen, die einem diese Stadt bereitet, mit jemandem teilen und weitergeben. Ich wollte diese Heiterkeit, die ihren Arm um mich gelegt hatte, jemandem schenken, der neben mir gehen sollte und zur gleichen Zeit dasselbe erlebte wie ich.
    Ich habe an diesem Abend einen Teller mit Muscheln gegessen und die vielen Paare beobachtet, die in unserem Lokal aßen und lachten und offensichtlich etwas wußten, von dem ich nur eine Ahnung haben konnte
    - eine Ahnung, die mich leise zu sich herrief und mir etwas ins Ohr flüsterte, dessen Sinn ich zwar verstand, das ich aber nicht beim Namen nennen durfte. Dann lag ich fast die halbe Nacht wach in meinem Zimmer und blickte zum Fenster, durch das ein schwacher Lichtschein hereinfiel und mein Zimmer in seinen Umrissen zeigte.
    Das Heimwärtsfahren letzter Boote mischte sich mit dem Lachen glücklicher Frauen und dem Geräusch der Wellen, die an die Treppe stießen und damit bis zum Morgen nicht mehr aufhörten.
    In dieser Nacht erlebte ich zum ersten Mal, daß es in mir eine Möglichkeit gab, am Leben zu sein, die danach rief, nicht allein zu bleiben - und diese Möglichkeit war der Anfang meines Abschiedes von der Kindheit, die noch nicht wußte, daß sie lieben kann.
    Ich habe in den kommenden Jahren immer seltener diese Stimmung in mir erlebt, weil sich die Welt darüberzuschieben begann wie eine Gletscherzunge über die Blumen an der Eisgrenze im Tal.
    Das heißt - nicht die Welt schob sich darüber - da ja diese Empfindung selbst ein Teil der Welt war - sondern vielmehr die Störgeräusche jenes Teiles der Welt, der laut ist und dröhnend und der sich als Wichtigkeit gebärdet, obwohl er doch nur Ablenkung von der wirklichen Schönheit des Lebens darstellt.
    Seltsame Prioritäten aus Selbstdisziplin, Ordnung und Kontinuitätsstreben wurden zu einem Cocktail gemixt und von denjenigen, die Macht über mein junges Leben hatten, in mein Glas geschüttet, mit dem ich bis dahin meines Weges gegangen war, froh, daß es leer war und glänzend.
    Links und rechts neben mir wanderten andere Menschen, deren äußeres Alter ähnlich niedrig war wie meines und denen deswegen genau wie mir das Wissen um das Sprechen der Tiere zu allen Zeiten auf das Rauhnächtemärchen zurechtgestutzt wurde. Fassungslos hörte etwas in mir der Aufforderung zu, erwachsen zu werden, um bestehen zu können im
    Kampf in der Welt - und erkannte im Zuhören schon, daß dieser Kampf ja nur durch die Spielregel des Erwachsenseins ausgelöst wurde.
    Hie und da streckten wir uns noch hilflos die Hände entgegen und vollführten gleichaltrige Streiche, die das Zurückweichen unserer Liebesfähigkeit beschwörend zu verhindern suchten, aber es war wie umsonst. Es gelang mir zwar manchmal, noch im Alter von einundzwanzig Jahren stundenlang zu sitzen und nur zu lauschen, was die Stille der Welt mir erzählt - aber wenn ich ehrlich bin, muß ich sagen, daß das nur so oft geschah, wie sich zufällig eine Lifttüre öffnet und das Fahrstuhllicht einen dunklen Gang erhellt. Das immerwährende Offenstehen dieser Türe aber war so um den

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