Byrne & Balzano 02 - Mefisto
heißen Sommertag wie diesem binnen weniger Minuten einen Sonnenbrand bekam, und gesegnet, weil sie sehr helle, beinahe durchscheinende Haut besaß. Die makellose Schönheit der Dreizehnjährigen ließ jetzt schon erahnen, dass sie im Alter von zwanzig oder dreißig jedem Mann den Kopf verdrehen würde.
Colleen gab ihm einen Kuss auf die Wange und umarmte ihn liebevoll, aber ein wenig zurückhaltend, denn sie wusste, dass ihr Vater unter starken Schmerzen litt. Sie wischte den Lippenstift von seiner Wange.
Seit wann benutzte sie Lippenstift?, fragte Byrne sich.
»Sind hier nicht zu viele Menschen für dich?«, fragte sie in der Gebärdensprache.
»Nein«, erwiderte Byrne ebenfalls in der Gebärdensprache.
»Bist du sicher?«
»Ja. Ich mag Menschenmengen.« Es war eine Lüge, und Colleen wusste es. Sie lächelte.
Colleen Byrne war von Geburt an gehörlos. Ihre genetisch bedingte Gehörlosigkeit hatte mehr Hindernisse auf den Weg ihres Vaters gelegt als auf ihren eigenen. Während Kevin Byrne viele Jahre damit verbracht hatte, über das zu jammern, was er arrogant als Behinderung seiner Tochter betrachtete, genoss Colleen ihr Leben in vollen Zügen, ohne jemals über ihr angebliches Missgeschick zu klagen. Colleen war eine erstklassige Schülerin und eine hervorragende Sportlerin. Sie beherrschte die amerikanische Gebärdensprache aus dem Effeff und war eine Expertin im Lippenlesen. Sogar die norwegische Gebärdensprache erlernte sie.
Byrne hatte vor langer Zeit gelernt, dass viele gehörlose Menschen ihre Zeit nicht wie hörende Menschen mit sinnlosen, überflüssigen Gesprächen vergeudeten, sondern ohne Umschweife kommunizierten. Mitunter entstand der Eindruck, als gälte für Gehörlose eine andere Zeitrechnung. Häufig wurde scherzhaft von einer ›Gehörlosen-Standardzeit‹ gesprochen – eine Anspielung darauf, dass gehörlose Menschen oft zu spät zu Verabredungen erschienen, weil sie gerne lange Gespräche führten. Sobald sie einmal richtig loslegten, waren sie kaum zu bremsen.
Die sehr nuancierte Gebärdensprache war im Grunde eine Art Gesten-Kurzschrift. Byrne bemühte sich nach Kräften, nicht die Übung zu verlieren und mit den neuesten Entwicklungen Schritt zu halten. Er hatte die Sprache erlernt, als Colleen ein Kleinkind war, und die Herausforderung überraschend gut gemeistert, wenn man bedachte, was für ein mieser Schüler er gewesen war.
Colleen setzte sich zu ihm auf die Bank. Byrne hatte in einem Cosi zwei Salate gekauft, war aber sicher, dass Colleen nichts essen würde, und behielt recht. Byrne fragte sich, wovon Dreizehnjährige sich heutzutage ernährten. Colleen nahm einen Diätsaft aus der Tasche und öffnete den Plastikverschluss.
Byrne nahm den Salat aus dem Plastikbeutel und stocherte darin herum. Er schaute Colleen an und fragte: »Hast du wirklich keinen Hunger?«
Sie blickte ihn von der Seite an: Dad.
Eine Weile saßen sie schweigend auf der Bank, genossen die Gesellschaft des anderen und den warmen Sommertag. Byrne lauschte den Missklängen des Sommers ringsum: der dissonanten Verschmelzung unterschiedlichster Musikrichtungen, dem Lachen der Kinder, einer angeregten politischen Diskussion, die irgendwo hinter ihnen geführt wurde, den unaufhörlichen Verkehrsgeräuschen im Hintergrund. Wie so oft in seinem Leben versuchte Byrne sich die grenzenlose Stille in Colleens Welt vorzustellen und fragte sich, wie sie sich an einem solchen Ort fühlte.
Byrne schob den Rest des Salats in den Plastikbeutel und schaute Colleen in die Augen.
»Wann fährst du ins Ferienlager?«, fragte er in der Gebärdensprache.
»Montag.«
Byrne nickte. »Bist du aufgeregt?«
Colleen strahlte. »Ja.«
»Soll ich dich hinbringen?«
Byrne erkannte ein Zögern in Colleens Augen. Mit dem Auto musste man etwa zwei Stunden Richtung Westen fahren, um das Ferienlager südlich von Lancaster zu erreichen. Colleens zögernde Antwort bedeutete, dass ihre Mutter sie dorthin bringen würde, vermutlich in Begleitung ihres neuen Freundes. Colleen konnte ihre Gefühle schlecht verbergen, während ihrem Vater das mühelos gelang.
»Nein, ist alles schon geregelt«, antwortete Colleen.
Während sie die Finger zur Antwort formte, sah Byrne, dass sie von einigen Leuten beobachtet wurden. Das war nichts Neues. Früher hatte er sich darüber aufgeregt, aber das war lange her. Die Menschen waren einfach neugierig. Als er vor einem Jahr mit Colleen im Fairmount Park gewesen war, hatte ein junger Skateboardfahrer
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