Byrne & Balzano 02 - Mefisto
musste zugeben, dass es ihr gefiel, ihr Wissen mit anderen zu teilen. Ihr Vater wollte natürlich, dass sie Präsidentin der Vereinigten Staaten wurde. Oder wenigstens Generalstaatsanwältin.
Einen Moment später erhob sich der Mann, der bei ihr Unterricht nehmen wollte, und reckte sich. Er warf das Buch in einen Papierkorb.
Es war ein heißer Tag. Er stieg in seinen Wagen und schaute auf das Display seines Foto-Handys. Das Bild war gut geworden. Sie war wirklich hübsch.
Er ließ den Wagen an, fädelte sich vorsichtig in den Verkehr ein und folgte dem Bus die Walnut Street hinunter.
5.
Als Byrne nach Hause kam, war es ruhig in seiner Wohnung. Wie hätte es auch anders sein können? Seit mehr als einem Jahr lebte er allein. Zwei Zimmer über einer ehemaligen Druckerei in der Zweiten Straße, spartanisch eingerichtet: ein durchgesessenes Sofa und ein angeschlagener Mahagoni-Couchtisch, ein Fernseher, ein Gettoblaster und ein Stapel Blues-CDs. Im Schlafzimmer ein französisches Bett und ein kleiner, preiswert erstandener Nachtschrank.
Byrne schaltete die Klimaanlage am Fenster ein, ging ins Bad, brach eine Vicodin entzwei und schluckte sie. Er spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Den Medizinschrank ließ er offen. Er redete sich ein, dass er ihn nicht mit Wasser bespritzen wollte, um es hinterher nicht wegwischen zu müssen. In Wahrheit hatte er Angst, sich im Spiegel zu betrachten. Wann hatte er sich das angewöhnt?
Er ging ins Wohnzimmer zurück und legte eine CD von Robert Johnson in den CD-Player. Er war in der richtigen Stimmung, sich Stones in My Passway anzuhören.
Nach seiner Scheidung war er wieder in das Viertel seiner Kindheit gezogen: das Queen Village in South Philadelphia. Sein Vater war Hafenarbeiter gewesen und ein stadtbekannter Spaßvogel. Wie sein Vater und seine Onkel auch war Kevin Byrne ein Two-Streeter, der sich mit der Second Street im Queen Village eng verbunden fühlte – und das würde auch immer so bleiben. Und obwohl es eine Weile dauerte, bis er wieder in den Rhythmus des Viertels eintauchte, verschwendeten die Alteingesessenen keine Zeit, es Byrne durch die drei Standardfragen Süd-Philadelphias zu erleichtern, sich heimisch zu fühlen:
Woher stammen Sie?
Wohnen Sie zur Miete oder im eigenen Haus?
Haben Sie Kinder?
Byrne hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, für eines der kürzlich sanierten Häuser am Jefferson Square, einem neu gestalteten Viertel in der Nähe, eine große Summe zu investieren. Doch er war nicht ganz sicher, ob sein Herz noch für Philadelphia schlug, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, die Stadt zu verlassen. Zum ersten Mal war er ein freier Mann. Trotz der Kosten für Colleens College hatte er ein paar Dollar gespart und konnte tun und lassen, was er wollte.
War er überhaupt schon an dem Punkt angelangt, aus dem Polizeidienst auszuscheiden? Könnte er seine Dienstwaffe und seine Marke zurückgeben, seinen Abschied aus dem aktiven Dienst beantragen, seinen Dienstausweis mit dem Vermerk ›Im Ruhestand‹ entgegennehmen und seines Weges gehen?
Er wusste es nicht.
Byrne setzte sich aufs Sofa und zappte durch die Kanäle. Er überlegte, ob er sich ein großes Glas Bourbon eingießen und die ganze Flasche bis zum Einbruch der Dunkelheit leeren sollte. Nein. Im Augenblick war er kein guter Trinker. Im Augenblick gehörte er zu diesen unangenehmen, morbiden Betrunkenen, die in einer vollen Kneipe mutterseelenallein an einer Theke hockten, weil alle anderen Gäste Abstand wahrten.
Sein Handy piepte. Er zog es aus der Tasche und starrte auf das Gerät. Es war ein neues Foto-Handy, das Colleen ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, und Byrne war mit den vielen Funktionen noch nicht richtig vertraut. Er sah auf das blinkende Icon und begriff, dass er eine SMS bekommen hatte. Byrne seufzte. Da beherrschte er die Gebärdensprache endlich richtig, schon musste er sich wieder mit einer neuen Art der Verständigung vertraut machen. Er schaute auf das Display. Es war eine SMS von Colleen. Das Verschicken von SMS war heutzutage unter Jugendlichen der Renner, vor allem aber unter Gehörlosen.
Die Mitteilung war leicht zu entziffern:
TY 4 LUNCH :)
Byrne lächelte. Thank you for lunch. Danke fürs Mittagessen. Er war der glücklichste Mann auf der Welt. Er antwortete:
YW LUL
Die Abkürzung für: You are welcome, love you lots. Ich freue mich immer, wenn wir uns sehen. Liebe dich sehr. Colleen antwortete:
LUL 2
Love you lots, too. Dann schrieb sie wie
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