Byrne & Balzano 1: Crucifix
wünschte, sie hätte seine Zuversicht geteilt.
»Können Sie sich vorstellen, wer Ihrer Tochter das angetan haben könnte?«, fragte Byrne.
Wells starrte ihn an, sein Gesicht ein Spiegel seines entsetzlichen Kummers.
»Ich muss Ihnen diese Frage stellen, Mr Wells. Kennen Sie jemanden, der das getan haben könnte?«
»Nein«, sagte Wells nur.
In diesem Nein schwangen viele Untertöne mit. Alle Beilagen des Hauptgerichts, pflegte Jessicas verstorbener Großvater zu sagen. Doch im Moment blieben diese Untertöne ungesagt. Und als der Frühlingstag vor den Fenstern von Frank Wells’ Wohnzimmer voranschritt und der Leichnam von Tessa Wells im Kühlfach der Gerichtsmedizin allmählich seine zahlreichen Geheimnisse zu verschleiern begann, war das eine gute Sache, dachte Jessica. Eine verdammt gute Sache.
Sie standen in der Diele des Reihenhauses und verabschiedeten sich von Frank Wells. Sein Schmerz war eine frische, rote, raue Wunde, eine Million blanker Nerven, die auf die Infektion durch die Stille warteten. Wells würde die offizielle Identifizierung der Leiche später an diesem Tag vornehmen. Jessica dachte an das Leben, das Frank Wells führte, seitdem seine Frau gestorben war, an die zweitausend Tage, an denen alle anderen ihr normales Leben weitergeführt, gelebt, gelacht, geliebt hatten. Sie dachte an die fünfzigtausend Stunden unerträglichen Kummers, die alle aus sechzig qualvollen Minuten bestanden, die wiederum aus sechzig qualvollen Sekunden bestanden. Jetzt drehte sich das Rad des Kummers erneut.
Sie hatten ein paar Schubladen und Schränke in Tessas Zimmer durchstöbert, aber keine brauchbaren Hinweise gefunden. Sie war ein Mädchen mit ausgeprägtem Ordnungssinn, das sogar alten Plunder ordentlich in einzelnen durchsichtigen Plastikschachteln in einer Schublade aufbewahrte: Streichholzheftchen von Hochzeiten, Ticketabschnitte von Kinofilmen und Konzerten, eine kleine Sammlung Buttons, ein Paar Plastikarmbänder von Krankenhausaufenthalten. Tessa bevorzugte Duftkissen aus Satin.
Ihre Kleidung war einfach und von durchschnittlicher Qualität. An den Wänden hingen ein paar Poster, aber nicht von Eminem oder Ja Rule oder DMX oder irgendeiner angesagten Boygroup, sondern von Geigerinnen wie Nadja Salerno-Sonnenberg und Vanessa Mae. Eine preiswerte Skylard-Geige stand in einer Ecke des Schrankes. Sie hatten auch den Focus durchsucht und nichts gefunden. Tessas Spind in der Schule würden sie sich später vornehmen.
Tessa Wells war ein Kind aus der Arbeiterschicht, das sich liebevoll um seinen kranken Vater gekümmert, in der Schule gute Noten geschrieben hatte und später vermutlich ein Stipendium für PennState bekommen hätte. Ein Mädchen, das seine Kleider in Beuteln aus der Reinigung und die Schuhe in Schuhkartons aufbewahrte.
Jetzt war Tessa Wells tot.
Und irgendjemand spazierte durch die Straßen Philadelphias, genoss die warme Frühlingsluft und atmete den Duft der Narzissen, die zu sprießen begannen. Dieser Jemand hatte ein unschuldiges junges Mädchen in einen dreckigen Keller eines abbruchreifen Hauses verschleppt und auf brutale Weise ermordet.
Und als dieser Jemand seine grausame Tat verübt hatte, sprach er die Worte:
In Philadelphia leben anderthalb Millionen Menschen.
Ich bin einer von ihnen.
Ihr müsst mich nur finden.
________________ Z WEITER T EIL
7.
Montag, 12.20 Uhr
S imon Close, Starreporter des führenden, wöchentlich erscheinenden Skandalblattes in Philadelphia, The Report , hatte seit mehr als zwei Jahrzehnten keinen Fuß mehr in eine Kirche gesetzt. Obwohl er nicht unbedingt erwartete, dass ein gewaltiger Lichtstrahl der Gerechtigkeit den Himmel teilte und ihn in ein schwelendes Häuflein Fett, Knochen und Knorpel verwandelte, verspürte er doch genügend Schuldgefühle eines Katholiken, dass er einen Moment verweilen würde, falls er je eine Kirche betrat, seine Finger ins Weihwasser tauchte und sich bekreuzigte.
Vor zweiunddreißig Jahren in Berwick-upon-Tweed im Lake District geboren, dem zerklüfteten Norden Englands an der Grenze zu Schottland, hatte Simon nie allzu sehr an etwas geglaubt, schon gar nicht an die Kirche. Als Sprössling eines brutalen Vaters und einer alkoholkranken Mutter, die stets im Vollrausch war, hatte Simon vor langer Zeit gelernt, dass er sich nur auf sich selbst verlassen konnte.
Mit sieben Jahren hatte er bereits in einem halben Dutzend katholischer Heime
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