Byrne & Balzano 1: Crucifix
Tochter.«
Er führte die Detectives in das kleine, saubere Wohnzimmer. Ein abgenutzter ovaler, geflochtener Läufer lag in der Mitte. Möbel aus früheren Zeiten standen an den Wänden. In einer Ecke stand ein alter Farbfernseher. Eine Gameshow lief. Das Bild war ein wenig verschwommen, der Ton leise.
»Wann haben Sie Tessa zum letzten Mal gesehen?«, fragte Byrne.
»Freitagmorgen.« Wells zog den Schlauch aus der Nase und legte ihn über die Armlehne des Lehnstuhls, auf dem er saß.
»Um wie viel Uhr hat sie das Haus verlassen?«
»Kurz vor sieben.«
»Haben Sie an dem Tag mit ihr gesprochen?«
»Nein.«
»Um wie viel Uhr kam sie normalerweise nach Hause?«
»Gegen halb vier«, sagte Wells. »Manchmal auch später, wenn die Musik-AG Probe hat. Sie spielt Geige.«
»Und sie ist nicht nach Hause gekommen und hat nicht angerufen?«, fragte Byrne.
»Nein.«
»Hat Tessa Geschwister?«
»Ja. Einen Bruder, Jason. Er ist wesentlich älter und lebt in Waynesburg.«
»Haben Sie eine Freundin von Tessa angerufen?«, fragte Byrne.
Wells atmete langsam und offenbar unter großen Schmerzen ein. »Nein.«
»Haben Sie die Polizei verständigt?«
»Ja. Ich habe die Polizei am Freitagabend gegen dreiundzwanzig Uhr angerufen.«
Jessica machte sich eine Notiz, damit sie die Vermisstenmeldungen überprüfte.
»Wie ist Tessa zur Schule gekommen?«, fragte Byrne. »Fuhr sie mit dem Bus?«
»Meistens«, sagte Wells. »Sie hatte einen eigenen Wagen, einen Ford Focus. Den habe ich ihr zum Geburtstag geschenkt, damit sie es einfacher hat bei ihren Besorgungen. Aber sie bestand darauf das Benzin selbst zu bezahlen. Darum fuhr sie drei- oder viermal in der Woche mit dem Bus.«
»Ist es ein Bus der Kirche oder ein städtischer Bus?«
»Ein Schulbus.«
»Wo ist die Haltestelle?«
»An der Ecke Neunzehnte und Poplar. Dort steigen auch andere Mädchen ein.«
»Wissen Sie, um wie viel Uhr der Bus dort hält?«
»Um fünf nach sieben«, sagte Wells mit einem traurigen Lächeln. »Ich kenne die Zeit ganz genau. Es war jeden Morgen ein Kampf«
Byrne und Jessica machten sich Notizen.
»Besaß sie einen Rosenkranz, Sir?«
Wells überlegte kurz. »Ja. Sie hatte einen zur Kommunion geschenkt bekommen, von ihrer Tante und ihrem Onkel …« Wells reckte sich, nahm ein kleines gerahmtes Foto vom Tisch und reichte es Jessica. Es war eine Aufnahme der achtjährigen Tessa, die einen Rosenkranz mit Kristallperlen in den gefalteten Händen hielt. Es war nicht der Rosenkranz, der um die Finger der Toten geschlungen worden war.
Jessica machte sich eine Notiz, als in der Gameshow ein neuer Kandidat begrüßt wurde.
»Meine Frau, Annie, ist vor sechs Jahren gestorben«, sagte Wells, ohne danach gefragt worden zu sein.
Schweigen.
»Das tut mir Leid«, sagte Byrne.
Jessica musterte Frank Wells und musste an ihren eigenen Vater in den Jahren nach dem Tod ihrer Mutter denken: ein Schatten seiner selbst, dem nur die Fähigkeit zu trauern geblieben war. Sie spähte ins Esszimmer und stellte sich die stummen Mahlzeiten vor, hörte das Klirren des Bestecks auf dem angeschlagenen Melamin. Vielleicht hatte Tessa ihrem Vater das gleiche Essen gekocht wie Jessica: Hackbraten mit Fertigsauce, freitags Spaghetti, gegrilltes Hähnchen am Sonntag. Und samstags wurde gebügelt. Und da Tessa von Jahr zu Jahr größer wurde, hatte sie die Milchkisten schließlich gegen Telefonbücher ausgetauscht, damit sie ans Bügelbrett herankam.
Und jetzt war Frank Wells ganz allein.
Jessica atmete tief durch und versuchte, sich zu konzentrieren. Die Luft war stickig, die Einsamkeit fast greifbar.
»Es ist wie mit einer Uhr«, sagte Wells plötzlich, die Finger verzagt auf dem Schoß gefaltet. Es sah aus, als hätte jemand die Hände für ihn dort so hingelegt, weil er dieser schlichten Geste in seinem Schmerz nicht gewachsen war. Hinter ihm hingen ein paar Fotos schief an der Wand. Besondere Ereignisse wie Hochzeiten, Schulabschlussfeiern und Geburtstage waren auf den Bildern verewigt. Auf einem Foto war Wells mit Anglerhut zu sehen, einen Arm um die Schultern eines jungen Mannes in einem schwarzen Blouson gelegt. Der junge Mann war vermutlich sein Sohn Jason. Der Blouson trug ein Logo, das Jessica nicht auf Anhieb einordnen konnte. Ein anderes Foto zeigte Frank Wells mit blauem Schutzhelm vor einem Bergwerksschacht.
Byrne fragte: »Wie bitte, Sir? Was ist wie mit einer Uhr …?«
Wells stand auf schritt mit der Würde eines Schwerkranken zum Fenster und
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