Byrne & Balzano 1: Crucifix
schaute auf die Straße. »Wenn Sie eine Uhr haben, die jahrelang an derselben Stelle steht. Man betritt das Zimmer und schaut auf diese Stelle, wenn man wissen will, wie spät es ist, weil die Uhr immer dort steht. Man schaut genau auf diese Stelle. Eines Tages stellen Sie die Möbel in dem Zimmer um. Die Uhr steht nun an einem neuen Platz … einem neuen Platz in der Welt. Aber tagelang, monatelang, sogar jahrelang schaut man noch auf den alten Platz. Sie wissen , dass die Uhr nicht mehr dort steht, aber Sie schauen trotzdem dorthin.«
Byrne unterbrach ihn nicht. Auch das gehörte zu den Ermittlungen.
»Dort bin ich jetzt, Detective. Dort bin ich seit sechs Jahren. Ich schaue auf den Platz, wo Annie in meinem Leben war, wo sie immer war, und sie ist nicht da. Jemand hat sie woanders hingebracht. Jemand hat mein Leben umgestaltet. Und jetzt … jetzt Tessa.« Er drehte sich um und schaute Byrne und Jessica an. »Jetzt ist die Uhr stehen geblieben.«
Jessica, die in einer Polizistenfamilie aufgewachsen war und die nächtlichen Ängste miterlebt hatte, wusste, dass es Augenblicke wie diese gab, wenn jemand die engsten Angehörigen eines Mordopfers vernehmen musste, wobei in seiner Seele eine unbändige Wut brannte. Jessicas Vater hatte einmal gesagt, manchmal beneide er die Ärzte, weil diese auf eine unheilbare Krankheit verweisen konnten, wenn sie mit den bangen Angehörigen auf den Fluren des Krankenhauses sprachen. Alles, was Detectives der Mordkommission hatten, waren Leichen. Und was sie sagen konnten, waren immer wieder dieselben Sätze: Tut mir Leid, Ma’am, Ihr Sohn wurde aus Habgier getötet. Tut mir Leid, Ma’am, Ihr Gatte wurde aus Leidenschaft getötet. Tut mir Leid, Ma’am, Ihre Tochter wurde aus Rache getötet.
Kevin Byrne rückte an den Rand des Sessels.
»Hatte Tessa eine gute Freundin, Sir? Mit der sie sich häufig getroffen hat?«
»Eine Schulfreundin kam ab und zu her. Sie hieß Patrice. Patrice Regan.«
»Und was ist mit Freunden? Mit Jungs?«
»Nein. Sie war … sie war sehr schüchtern«, sagte Wells. »Im letzten Jahr traf sie sich eine Zeit lang mit diesem Sean, aber irgendwann hörte das auf«
»Wissen Sie warum?«
Wells errötete leicht und fasste sich dann wieder. »Ich glaube, er wollte … Nun, Sie wissen ja, wie junge Burschen so sind.«
Byrne warf Jessica einen Seitenblick zu, um sie aufzufordern, sich Notizen zu machen. Menschen sind befangen, wenn Polizisten aufschreiben, was sie sagen. Während Jessica sich Notizen machte, konnte Byrne den Blickkontakt mit Wells beibehalten. Das war die Zeichensprache, derer Cops sich bedienten, und Jessica war froh, dass sie und Byrne diese Sprache schon nach den wenigen Stunden ihrer Zusammenarbeit beherrschten.
»Kennen Sie Seans Familiennamen?«, fragte Byrne.
»Brennan.«
Wells wandte sich vom Fenster ab und wollte zu seinem Sessel zurück, zögerte dann aber und hielt sich am Fensterbrett fest. Byrne sprang auf, ergriff Wells’ Arm und half ihm, sich in den überladenen Lehnstuhl zu setzen. Wells schob sich den Schlauch in die Nase, nahm das Polaroid-Foto in die Hand und betrachtete es noch einmal. »Sie trägt ihren Anhänger nicht.«
»Sir?«, sagte Byrne.
»Ich habe ihr zur Firmung einen Schutzengel geschenkt. Sie hat ihn niemals abgenommen. Niemals.«
Jessica schaute auf das Bild auf dem Kaminsims, ein Foto der fünfzehnjährigen Highschool-Schülerin aus einem Fotostudio. Sie sah den silbernen Anhänger an der Kette des Mädchens. Seltsamerweise erinnerte Jessica sich, dass ihre todkranke Mutter im letzten Sommer ihres Lebens zu ihr gesagt hatte, sie habe einen Schutzengel, der immer über sie wachte und sie vor dem Bösen bewahrte. Jessica hätte zu gern geglaubt, dass dies auch auf Tessa Wells zutraf. Das Foto der Leiche erschütterte den Glauben daran.
»Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, das uns helfen könnte?«, fragte Byrne.
Wells überlegte kurz, doch ihm war anzusehen, dass er nun in Erinnerungen an seine Tochter gefangen war – Erinnerungen, die noch nicht dem gespenstischen Reich der Träume angehörten. »Sie kannten sie nicht«, sagte Wells schließlich. »Sie haben sie auf diese entsetzliche Weise kennen gelernt.«
»Ja, Sir«, sagte Byrne. »Und ich kann Ihnen nicht sagen, wie Leid es uns tut. Aber wer immer Tessa das angetan hat, wir werden ihn finden. Ich gebe Ihnen mein Wort.«
Jessica fragte sich, wie oft Byrne das wohl schon gesagt hatte und wie oft er sein Versprechen einlösen konnte. Sie
Weitere Kostenlose Bücher