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Byrne & Balzano 1: Crucifix

Byrne & Balzano 1: Crucifix

Titel: Byrne & Balzano 1: Crucifix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Montanari
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Einträge waren spärlich; manchmal hatte Tessa tage- oder sogar wochenlang nichts geschrieben. Offenbar hatte sie nicht zu den jungen Mädchen gehört, die ihrem Tagebuch jeden Gedanken, jedes Gefühl, jede Gemütsregung und jedes Ereignis anvertrauten.
    Im Großen und Ganzen schien sie ein trauriges Mädchen gewesen zu sein, das das Leben als Last empfunden hatte. In einem Eintrag ging es um einen Dokumentationsfilm über drei Männer, die, wie Tessa glaubte – die Filmemacher übrigens auch –, in West Memphis, Tennessee, irrtümlicherweise verurteilt worden waren. An einer Stelle hatte sie ausführlich über die große Not der hungernden Kinder in den Appalachen geschrieben. Tessa hatte zwanzig Dollar für die zweite Hilfsaktion gespendet. In einer Hand voll Einträgen ging es um Sean Brennan.
     
    Was habe ich falsch gemacht? Warum rufst du nicht mehr an?
     
    Eine lange, rührende Geschichte handelte von einer obdachlosen Frau, die Tessa kennen gelernt hatte. Diese Frau mit Namen Carla lebte in einem Auto in der Dreizehnten Straße. Tessa schrieb nicht, wie sie die Frau kennen gelernt hatte, sondern nur, wie schön Carla war und dass sie Model hätte werden können, wenn ihr Leben nicht so viele dramatische Wendungen genommen hätte. Die Frau erzählte Tessa, dass das Wohnen in einem Auto vor allem deshalb so unangenehm sei, weil sie keine Privatsphäre habe und in der ständigen Angst lebe, von jemandem beobachtet zu werden, der ihr vielleicht etwas antun wolle. Im Laufe der nächsten Wochen dachte Tessa lange und intensiv über das Problem nach, und dann begriff sie, dass sie etwas tun konnte, um dieser Frau zu helfen.
    Tessa besuchte ihre Tante Georgia. Sie borgte sich deren Singer-Nähmaschine und fertigte auf eigene Kosten Vorhänge für die obdachlose Frau an, die am Wagenhimmel befestigt werden konnten.
    Wirklich eine interessante junge Frau, dachte Jessica.
    Der letzte Eintrag lautete:
     
    Dad ist sehr krank. Ich glaube, sein Zustand verschlimmert sich. Er versucht, stark zu sein, aber ich weiß, dass er sich nur um meinetwillen bemüht. Ich schaue auf seine knöchernen Hände und denke an die Zeit, als ich klein war und er mich auf der Schaukel anstieß. Ich hatte das Gefühl, meine Füße berührten die Wolken. Seine Hände sind von dem scharfen Schiefer und den Kohlen zerschnitten und vernarbt. Die Eisenrutschen haben seine Fingernägel stumpf gemacht. Er hat immer gesagt, er habe seine Seele in Carbon County verloren, aber sein Herz ist bei mir. Und bei Mama. Ich höre sein qualvolles Atmen jede Nacht. Obwohl ich weiß, wie groß seine Schmerzen sein müssen, tröstet mich jeder Atemzug, weil er mir sagt, dass er noch da ist. Daddy.
     
    In der Mitte des Tagebuchs waren zwei Seiten herausgerissen, dann folgte der allerletzte Eintrag. Vor fast fünf Monaten hatte Tessa geschrieben:
     
    Ich bin zurück. Nenn mich einfach Sylvia.
     
    Wer ist Sylvia?, fragte Jessica sich.
    Sie überflog ihre Notizen. Tessas Mutter hieß Anne. Sie hatte keine Schwester. Und an der Nazarene Academy gab es bestimmt keine »Schwester Sylvia«.
    Jessica blätterte wieder in dem Tagebuch. Ein paar Seiten vor denen, die herausgerissen waren, stand ein Zitat aus einem Gedicht, das Jessica nicht kannte.
    Sie sah sich noch einmal den letzten Eintrag an. Tessa hatte die Sätze im letzten Jahr nach Thanksgiving in ihr Tagebuch geschrieben.
     
    Ich bin zurück. Nenn mich einfach Sylvia.
     
    Woher zurück, Tessa? Und wer war Sylvia?
     

 
     
    9.
     
     
    Montag, 13.00 Uhr
     
     
    J immy Purify war schon in der siebten Klasse fast eins achtzig groß gewesen, doch niemand hatte ihn je als Hungerlatte verspottet. Er hatte in die verrufensten Kneipen der Weißen in Gray’s Ferry gehen können, ohne ein Wort zu sagen, worauf die Gäste ihre Gespräche im Flüsterton fortsetzten und sogar die härtesten Typen angespannt und unruhig wurden.
    Geboren und aufgewachsen in West-Philadelphia, dem Schwarzen Kessel, hatte Jimmy dort – und anderswo – Arbeiten übernommen, die einem kleineren Mann das Rückgrat gebrochen hätten, die Jimmy jedoch mit der Selbstbeherrschung und Würde eines Gassenjungen erledigt hatte.
    Doch als Byrne nun vor der Tür von Jimmys Krankenzimmer stand, sah der Mann im Bett wie eine verblichene Zeichnung von Jimmy Purify aus, wie die Skizze jenes Mannes, der er einst gewesen war. Jimmy hatte bestimmt dreißig Pfund abgenommen. Seine Wangen waren eingefallen, seine Haut aschfahl.
    Byrne musste sich

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