Byrne & Balzano 1: Crucifix
dann in ihr feines, schmales Portemonnaie von Vuitton.
»Sie sprach davon, eines Tages nach Frankreich zu gehen«, sagte Claire.
Jessica erinnerte sich, einst auch diesen Traum gehabt zu haben. Fast jeder träumte davon. Sie kannte kein Mädchen aus ihrer Klasse, das wirklich dort gewesen war.
»Aber Tessa gehörte nicht zu den Mädchen, die von romantischen Spaziergängen an der Seine oder Shoppingtouren auf den Champs-Élysées träumten«, fuhr Claire fort. »Sie sprach davon, mit benachteiligten Kindern zu arbeiten.«
Jessica machte sich Notizen, obwohl sie gar nicht wusste, warum. »Hat Sie mit Ihnen jemals über ihr Privatleben gesprochen? Über jemanden, der sie belästigt hat?«
»Nein. Aber in dieser Hinsicht hat sich seit Ihrer Highschool-Zeit nicht viel verändert. Seit meiner übrigens auch nicht. Wir sind Erwachsene und für die Schülerinnen so etwas wie Außerirdische. Sie vertrauen uns nicht mehr als ihren Eltern.«
Einem Gefühl folgend, hätte Jessica Claire gern nach Brian Parkhurst gefragt, ließ es dann aber sein. »Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, das uns helfen könnte?«
Claire überlegte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Tut mir Leid.«
»Schon in Ordnung«, sagte Jessica. »Sie haben mir sehr geholfen.«
»Ich kann es kaum glauben, dass … dass sie tot ist«, sagte Claire. »Sie war noch so jung.«
Das hatte Jessica auch den ganzen Tag gedacht. Bis jetzt hatte sie keine Erklärung dafür. Keine, die trösten oder ausreichen würde. Sie nahm ihre Tasche und schaute auf die Uhr. Sie musste zurück nach Nord-Philadelphia.
»Spät dran?«, fragte Claire.
Jessica erinnerte sich nur zu gut an diese Bemerkung und lächelte. Als Schülerin war sie immer spät dran gewesen. »Sieht so aus, als würde ich mein Mittagessen verpassen.«
»Kaufen Sie sich doch ein Sandwich in der Cafeteria.«
Das war vielleicht gar keine schlechte Idee. Als Jessica noch zur Highschool ging, gehörte sie zu den sonderbaren Schülerinnen, denen das Cafeteria-Essen richtig gut geschmeckt hatte. Sie nahm ihren Mut zusammen und fragte: »Qu’est-ce que vous … proposez?«
Wenn sie sich nicht irrte – und das hoffte sie sehr –, hatte sie gefragt: Was würden Sie mir empfehlen?
Der Blick in das Gesicht ihrer ehemaligen Französischlehrerin sagte ihr, dass sie ihre Frage richtig formuliert hatte. Zumindest gut genug für das Niveau einer Highschool-Schülerin.
»Nicht schlecht, Mademoiselle Giovanni«, sagte Claire mit einem wohlwollenden Lächeln.
»Merci.«
»Avec plaisir. Und die Sloppy Joes sind noch immer sehr gut.«
Tessas Spind stand nicht weit von dem entfernt, den Jessica einst gehabt hatte, und einen Moment war sie versucht, ihre alte Kombination auszuprobieren.
Als Jessica die Nazarene Academy besucht hatte, gehörte Tessas Spind Janet Stefani, die damals die alternative Schülerzeitung herausgab und als Kifferin bekannt war. Jessica rechnete beinahe damit, Drogen in dem Spind zu finden, als sie ihn öffnete. Stattdessen fand sie ein Abbild von Tessa Wells’ letztem Schultag.
Auf einem Bügel hingen ein Nazarene-Sweatshirt mit Kapuze und ein selbst gestrickter Schal. Eine Plastikregenhaube hing an einem Haken. Auf dem obersten Brett lagen Tessas Sportsachen, sauber und ordentlich gefaltet. Darunter lag ein kleiner Stapel Notenblätter. Auf der Innenseite der Tür, wo die meisten Mädchen Fotos hängen hatten, hing ein Katzenkalender. Der letzte Monat war abgerissen. Die Tage waren durchgestrichen – bis zum letzten Donnerstag.
Jessica verglich die Bücher in dem Spind mit der Liste, die sie vom Büro erhalten hatte. Zwei Bücher fehlten: Biologie und Algebra II.
Wo sind sie? , fragte Jessica sich.
Sie durchsuchte die Seiten von Tessas anderen Schulbüchern. Im Lehrbuch Medien und Kommunikation steckte ein Stundenplan auf rosafarbenem Papier. Im Theologiebuch, Wege zum katholischen Christentum , lagen zwei Abholscheine aus der Reinigung. In den anderen Büchern fand Jessica nichts. Keine persönlichen Notizen, keine Briefe, keine Fotos.
Auf dem Boden des Spinds standen halbhohe Gummistiefel. Jessica wollte den Spind schon schließen, beschloss dann aber, die Stiefel herauszunehmen und auf den Kopf zu drehen. Der linke Stiefel war leer. Als sie den rechten umdrehte, fiel etwas auf den glänzenden Hartholzboden.
Ein kleines, in Kalbsleder gebundenes Tagebuch mit Kanten aus Blattgold.
Jessica aß ihr deftiges belegtes Brot auf dem Parkplatz und las in Tessas Tagebuch.
Die
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