Byrne & Balzano 1: Crucifix
wenn er wieder in Berwick gewohnt hätte, wäre ihm diese sensationelle Story durch die Lappen gegangen.
Die Espressomaschine zischte und gluckerte und goss innerhalb von siebzehn Sekunden genau die richtige Menge Espresso mit einer köstlichen, goldenen crema in die vorgewärmte Espressotasse.
Simon zog die Tasse weg. Als ihm das Aroma in die Nase stieg, wusste er, dass ein herrlicher neuer Tag begann.
Tote weiße Mädchen, dachte er und nippte von dem starken, braunen Kaffee.
Tote, katholische weiße Mädchen.
In Crack-Town .
Wunderbar.
8.
Montag, 12.50 Uhr
S ie trennten sich vor der Mittagspause. Jessica kehrte in einem Ford Taurus der Polizei zur Nazarene Academy zurück. Auf der I-95 war nicht viel Verkehr, aber der Regen hielt sich hartnäckig.
In der Schule sprach Jessica kurz mit Dottie Takacs, der Schulbusfahrerin, die die Mädchen in Tessas Wohngegend abholte. Die Nachricht von Tessas Tod hatte die Busfahrerin zutiefst erschüttert, doch sie war in der Lage, Jessicas Fragen zu beantworten. Nein, Tessa habe am Freitagmorgen nicht an der Haltestelle gestanden, und nein, sie erinnere sich an keine auffällige Person, die öfter an der Haltestelle oder irgendwo entlang der Strecke gelungert habe. Sie fügte hinzu, dass es ihr Job sei, auf die Straße zu achten.
Schwester Veronique informierte Jessica, dass Dr. Parkhurst sich den Nachmittag freigenommen habe, gab ihr aber seine Adresse und Telefonnummer. Sie sagte ihr auch, dass Tessas letzte Unterrichtsstunde am Donnerstag Französisch II gewesen sei. Falls Jessica sich recht erinnerte, mussten alle Nazarene-Schülerinnen eine Fremdsprache in zwei aufeinander folgenden Jahren belegen, um den Highschool-Abschluss zu erwerben. Jessica überraschte es nicht, dass ihre alte Französischlehrerin, Claire Stendhal, noch unterrichtete. Sie fand sie im Lehrerzimmer.
»Tessa war eine hervorragende Schülerin«, sagte Claire. »Ein Traum. Ausgezeichnete Grammatik, fehlerlose Syntax. Sie hat ihre Hausarbeiten immer pünktlich abgeliefert.«
Als Jessica mit Madame Stendhal sprach, hatte sie das Gefühl, in ihre Schulzeit zurückversetzt zu werden, wobei sie das Lehrerzimmer allerdings nie zuvor betreten hatte. Wie viele andere Schülerinnen auch hatte sie sich immer vorgestellt, es handele sich um eine Kombination aus Nachtclub, Motelzimmer und einer gut ausgestatteten Opiumhöhle. Die Wirklichkeit war enttäuschend. Es war ein gewöhnlicher, langweiliger Raum mit drei Tischen und billigen Cafeteriastühlen, einer kleinen Sitzgruppe mit zwei Sofas und zwei alten Kaffeemaschinen.
Das traf auf Claire Stendhal keineswegs zu. An ihr war nichts langweilig oder gewöhnlich und war es nie gewesen. Die Lehrerin war groß und elegant, mit einer klasse Figur und einer makellosen samtweichen Haut. Jessica und ihre Klassenkameradinnen hatten diese Frau immer furchtbar um ihre Garderobe beneidet: Pringle-Pullover, Nipon-Kostüme, Ferragamo-Schuhe, Burberry-Mäntel. Ihr Haar, das sie heute kürzer trug, war von silbernen Strähnen durchzogen, doch Claire Stendhal war auch mit Mitte vierzig noch eine beeindruckende Frau. Jessica fragte sich, ob Madame Stendhal sich an sie erinnerte.
»Machte sie in letzter Zeit einen besorgten Eindruck?«, fragte Jessica.
»Nun, die Krankheit ihres Vaters, wie Sie sich gut vorstellen können. Ich glaube, sie hat ihm den Haushalt geführt. Im letzten Jahr hat sie fast drei Wochen gefehlt, weil sie sich um ihn kümmern musste. Trotzdem hat sie nie versäumt, eine Hausarbeit abzugeben.«
»Erinnern Sie sich daran, wann genau sie gefehlt hat?«
Claire dachte kurz nach. »Wenn ich mich nicht irre, war es nach Thanksgiving.«
»Ist Ihnen irgendetwas an ihr aufgefallen, als sie wieder zur Schule kam?«
Claire schaute aus dem Fenster in den Regen, der auf den Schulhof fiel. »Jetzt, wo Sie mich danach fragen … ich glaube, sie war noch verschlossener als sonst«, sagte sie. »Noch weniger gewillt, sich an Gruppendiskussionen zu beteiligen.«
»Haben ihre schulischen Leistungen nachgelassen?«
»Keineswegs. Sie war eher noch gewissenhafter.«
»Hatte sie enge Freundinnen in der Klasse?«
»Tessa war eine höfliche, liebenswürdige junge Dame, aber ich glaube nicht, dass sie viele Freundinnen hatte. Wenn Sie möchten, höre ich mich gern um.«
»Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, sagte Jessica. Sie reichte Claire ihre Karte. Die Französischlehrerin warf einen flüchtigen Blick darauf und steckte sie
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