Byrne & Balzano 1: Crucifix
bewusst, dass er vor langer Zeit beschlossen hatte, diese sonderbare Sexualpropaganda der Madison Avenue zu ignorieren.
Er sah sich um.
Warum war er hier?
Wieder diese Frage.
Zwanzig Jahre auf den Straßen einer Stadt mit einer der höchsten Kriminalitätsraten der Welt hatten ihn seiner Kräfte beraubt. Er kannte keinen einzigen Detective, der nicht trank, der keinen Entzug hinter sich hatte, der nicht spielte, keine Nutten besuchte, der seine Kinder oder seine Frau nicht schlug. Der Job brachte diese Ausschreitungen mit sich, und wenn man für das grenzenlose Grauen keinen Ausgleich durch eine grenzenlose Leidenschaft für irgendetwas schuf – selbst häusliche Gewalt –, begannen die Ventile zu knirschen und zu quietschen, bis man schließlich eines Tages durchdrehte und sich die Knarre in den Mund steckte.
In seinen Jahren als Detective hatte er in dutzenden von Wohnzimmern, unzähligen Einfahrten und auf tausenden unbebauter Grundstücke gestanden, wo der stumme Tod wie ein Bild aus verregneten Gouachefarben in der nahen Ferne auf ihn wartete. So eine trübe Schönheit. Im Schlaf fand er eine gewisse Distanz. Es waren die Details, die seine Träume besudelten.
Er erinnerte sich an jede Einzelheit an diesem schwülen Morgen, als er in den Fairmount Park gerufen worden war: die dicken Fliegenschwärme über seinem Kopf; die Lage von Deirdre Pettigrews dünnen Beinen, die aus den Büschen herausragten; ihr blutbefleckter weißer Slip um einen Knöchel geschlungen; das Pflaster auf ihrem rechten Knie. Es war ein knallgelbes Kinderpflaster. Als ihre Mutter dieses Pflaster auf die Schramme geklebt hatte – Deirdres Gesicht noch feucht von den Tränen, den beruhigenden Singsang ihrer Mutter in den Ohren –, konnten sie nicht wissen, dass die Wunde nie mehr heilen würde.
Wochenlang hatte er dieses Pflaster vor Augen. Wie immer, wenn er ein ermordetes Kind gesehen hatte, wusste er auch in diesem Fall, dass er auf das Kind zugehen musste, ungeachtet seiner leeren Seele und seiner reduzierten Instinkte. Er musste dem Morgen trotzen, egal, welche Dämonen ihn in der Nacht verfolgten.
In den ersten Jahren seines Jobs ging es um die Gewalt, die Trägheit der Gerechtigkeit, die Jagd nach den Tätern. Es ging um ihn . Aber irgendwann im Laufe der Jahre wurde es mächtiger. Es ging um die kleinen toten Mädchen und ihre knallgelben Pflaster.
Und jetzt Tessa Wells.
Er schloss die Augen und spürte die kalten Fluten des Delaware River, die ihm die Luft zum Atmen nahmen.
Unter ihm kreuzten die Banden-Kampfhubschrauber. Der Lärm der Hip-Hop-Bass-Klänge erschütterte den Boden, die Fenster, die Wände, erhob sich wie stählerner Dampf von den Straßen.
Die Stunde der Sonderlinge nahte. Bald würde er zwischen ihnen gehen.
Die Monster krochen aus ihren Höhlen.
Und als er nun an diesem Ort saß, an dem Männer ihre Selbstachtung für ein paar Augenblicke erstarrter Stille aufgaben, einem Ort, an dem Tiere aufrecht gingen, wusste Kevin Francis Byrne, dass ein neues Monster sich in Philadelphia regte, ein schwarzer Todesengel, der ihn auf ein unbekanntes Terrain führen und in einen Abgrund locken würde, von dem Männer wie Gideon Pratt nur eine schwache Ahnung hatten.
14.
Montag, 20.00 Uhr
E s ist Abend in Philadelphia.
Ich stehe an der North Broad Street und schaue Richtung Downtown und die beeindruckende Skulptur von William Penn, die auf der City Hall leuchtet, spüre, wie die Wärme des Frühlingstages dem Knistern des roten Neons und de Chiricos langen Schatten weicht, und staune wieder einmal über die beiden Gesichter der Stadt.
Dies sind nicht die gelben Temperafarben des hellen Tages von Philadelphia, die grellen Farben von Robert Indianas Love oder des Mural Arts Program. Das ist Philadelphia bei Nacht, eine Stadt, die mit dicken, kräftigen Pinselstrichen dargestellt wird, einem Impasto sedimentärer Pigmente.
Das alte Gebäude an der North Broad hat viele Nächte bezeugt; seine viereckigen Stützpfeiler halten seit fast einem Jahrhundert schweigend Wache. In vielerlei Hinsicht ist es das stoische Gesicht der Stadt: die alten Holzsitze, die Kassettendecke, die geschnitzten Medaillons, die alten Gemälde, von denen die Farbe abblättert und auf denen tausend Mann ihr Blut vergossen haben und gefallen sind.
Wir gehen der Reihe nach hinein. Wir lächeln uns an, runzeln die Stirn und klopfen uns auf die Schultern.
Ich rieche den Kupfergeruch ihres Blutes.
Diese Männer
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