Byrne & Balzano 1: Crucifix
mögen meine Missetaten kennen, aber sie kennen nicht mein Gesicht. Sie glauben, ich wäre ein Verrückter und würde aus der Dunkelheit hervorstürzen wie der Schrecken eines Horrorfilms. Sie werden die Dinge, die ich getan habe, an ihren Frühstückstischen, im Bus, in den Kantinen lesen, und sie werden die Köpfe schütteln und sich fragen, warum.
Könnte es sein, dass sie es wissen?
Könnte es sein, dass diese Männer dasselbe tun würden, wenn sie die Möglichkeit hätten? Wenn man die Schichten der Gottlosigkeit und des Schmerzes und der Grausamkeit abzieht? Könnten sie die Töchter anderer an die dunkle Straßenecke locken, in das leer stehende Gebäude, die Einsamkeit des Parks? Könnten sie ihre Messer wetzen, die Pistolen laden und die Knüppel schwingen und schließlich ihrer Rache Ausdruck verleihen? Könnten sie ihren aufbrausenden Zorn zügeln und dann nach Upper Darby, New Hope und Upper Merion und zur Sicherheit ihrer Lügen eilen?
Es gibt immer einen krankhaften Wettstreit in der Seele, einen Kampf zwischen Ekel und Bedürfnis, zwischen Dunkelheit und Licht.
Die Glocken läuten. Wir stehen von unseren Stühlen auf. Wir treffen uns in der Mitte.
Philadelphia, deine Töchter sind nicht sicher.
Du bist hier, weil du es weißt. Du bist hier, weil du nicht den Mut hast, ich zu sein. Du bist hier, weil du Angst hast, ich zu werden.
Ich weiß, warum ich hier bin.
Jessica.
15.
Montag, 20.30 Uhr
V ergessen Sie Caesar’s Palace. Vergessen Sie den Madison Square Garden. Vergessen Sie das MGM Grand. Der beste Platz in Amerika – und einige würden sogar behaupten, in der ganzen Welt –, um einen Boxkampf auszutragen, ist das legendäre Blue Horizon an der North Broad Street. In einer Stadt, die Männer wie Jack O’Brien, Joe Frazier, James Shuler, Tim Witherspoon und Bernard Hopkins hervorgebracht hat – ganz zu schweigen von Rocky Balboa –, ist das legendäre Blue Horizon ein Prunkstück, und wenn das Blue geht, gehen Phillys Boxer auch.
Jessica und ihre Gegnerin Mariella »Sparkle« Munoz zogen sich in demselben Raum um und wärmten sich dort auf. Jessica wartete auf ihren Großonkel Vittorio, einen ehemaligen Schwergewichtler, damit er ihr die Hände verband, und spähte zu Sparkle Munoz hinüber. Sparkle war Ende zwanzig, mit dicken Armen und einem unglaublich breiten Nacken. Eine wahre Dampframme. Sie hatte eine platte Nase, Narben über beiden Augen und ein ewiges Spielergesicht, eine beständige Grimasse, die ihre Gegnerinnen einschüchtern sollte.
Der werde ich das Grinsen austreiben , dachte Jessica.
Wenn Jessica es darauf anlegte, konnte sie die Haltung einer hilflosen Frau annehmen, die Probleme damit hatte, ohne die Hilfe eines starken Mannes eine Packung Orangensaft zu öffnen. Diese Mimik, so hoffte sie, sollte ihre Gegnerin in Sicherheit wiegen.
Was sie wirklich damit meinte, war:
Zeig, was du kannst, Baby .
Die erste Runde begann mit gegenseitiger »Tuchfühlung«, wie die Boxer es bezeichnen. Beide Frauen teilten harmlose Jabs aus und umkreisten einander tänzelnd. Ein oder zwei Clinches. Ein paar Grimassen und gegenseitige Einschüchterungsversuche. Jessica war etwas größer als Sparkle, was diese durch ihren Körperumfang wettmachte. Sie sah aus wie ein Storch mit Socken.
In der Mitte der Runde kam Leben in den Kampf, und auch die Zuschauer wurden munter. Selbst wenn Jessica nur einen harmlosen Jab landete, tobte die Menge, die von mehreren Cops aus ihrem alten Dezernat angefeuert wurde.
Als die Glocke das Ende der ersten Runde verkündete, trat Jessica unversehrt zur Seite, und Sparkle verpasste ihr einen Körpertreffer, der eindeutig und absichtlich zu spät kam. Jessica stieß ihre Gegnerin zurück, und der Ringrichter musste dazwischengehen. Er war ein kleiner schwarzer Mann Ende fünfzig. Jessica vermutete, dass der Sportverband von Philadelphia keinen großen Mann als nötig erachtete, weil es nur ein Kampf in der Leichtgewichtsklasse war und obendrein einer, der von Frauen ausgetragen wurde.
Falsch.
Sparkle landete über den Kopf des Ringrichters hinweg einen Schlag an Jessicas Schulter. Jessica rächte sich mit einer Geraden an Sparkles Kiefer. Sparkles Trainer stürmte zusammen mit Onkel Vittorio in den Ring, und obwohl die Menge die Kämpferinnen anfeuerte – einige der besten Kämpfe in der Geschichte des Blue Horizon wurden zwischen den Runden ausgefochten –, schafften sie es, die beiden Frauen zu trennen.
Jessica
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