Byrne & Balzano 1: Crucifix
zeitlichen Ablauf des Geschehens immer wieder vor Augen führte und die Fotos betrachtete. Bilder von Tessa Wells, Bilder von Nicole Taylor, Schnappschüsse des Todeshauses in der Achten Straße, Bilder der Gänseblümchenwiese in den Bartram Gardens. Hände, Füße, Augen, Arme, Beine. Bilder mit Maßleiste, die eine maßstabgerechte Betrachtung ermöglichte. Bilder mit Raster, das eine perspektivische Betrachtung ermöglichte.
Diese Bilder bargen die Antworten auf alle Fragen, die Byrne sich stellte. Jessica hatte den Eindruck, als wäre Byrne völlig weggetreten. Sie hätte ein Monatsgehalt dafür gegeben, hätte sie Kevins Gedanken in diesem Moment lesen können.
Der Spätnachmittag schleppte sich dahin, bis er allmählich dem Abend wich. Und Kevin Byrne stand noch immer regungslos da, während sein Blick von links nach rechts und von oben nach unten über die Fotos auf der Dokumentationswand glitt.
Plötzlich riss der Detective eine Nahaufnahme von Nicole Taylors linker Handfläche von der Dokumentationswand. Er stellte sich damit ans Fenster und hielt sie ins düstere Licht. Sein Blick glitt über Jessica hinweg in die Ferne, ohne sie wahrzunehmen. Er nahm eine Lupe vom Schreibtisch und wandte sich wieder dem Foto zu.
»Mein Gott!« , rief er schließlich, womit er die Aufmerksamkeit der wenigen noch anwesenden Detectives auf sich lenkte. »Dass wir das übersehen haben!«
»Was denn?«, fragte Jessica. Sie war froh, dass Byrne endlich sprach. Sie hatte sich langsam Sorgen um ihn gemacht.
Byrne zeigte auf die Kerben in dem Handballen, die laut Aussage von Tom Weyrich durch den Druck von Nicoles Fingernägeln entstanden waren.
»Diese Abdrücke.« Er nahm den Bericht der Gerichtsmedizin über Nicole Taylor in die Hand. »Seht mal. In den Kerben in ihrer linken Hand gibt es Spuren eines burgunderroten Nagellacks.«
»Was ist damit?«, fragte Buchanan.
»Der Nagellack an ihrer linken Hand war grün «, sagte Byrne.
Byrne zeigte auf die Nahaufnahme der Fingernägel von Nicole Taylors linker Hand. Die Farbe war dunkelgrün. Er hielt ein Foto ihrer rechten Hand hoch.
»Der Nagellack an ihrer rechten Hand war burgunderrot.«
Die drei anwesenden Detectives wechselten Blicke und zuckten die Schultern.
»Versteht Ihr das nicht? Die Abdrücke entstanden nicht, indem sie die linke Hand zusammengeballt hat. Sie hat die Kerben mit der anderen Hand in den Handballen geritzt.«
Jessica strengte sich an, auf dem Foto etwas zu erkennen, als würde sie eines der perspektivisch verzerrten Bilder von M. C. Escher betrachten. Sie sah nichts. »Ich verstehe nicht …«, sagte sie.
Byrne nahm seine Jacke und steuerte auf die Tür zu. »Wirst du schon.«
Byrne und Jessica standen in dem kleinen digitalen Fotolabor der Kriminaltechnik.
Der Bildspezialist vergrößerte die Bilder von Nicole Taylors linker Hand. Die meisten Polizei-Fotografen arbeiteten noch immer mit 35-mm-Filmen und übertrugen sie dann ins Digitalformat. Anschließend konnten die Aufnahmen vergrößert, ihre Qualität verbessert und gegebenenfalls eine Bearbeitung fürs Gericht vorgenommen werden. Das Interesse an diesen Fotos konzentrierte sich auf die kleinen, halbmondförmigen Kerben auf Nicoles Handballen. Der Bildspezialist vergrößerte den entsprechenden Ausschnitt und verbesserte die Qualität. Als auf dem vergrößerten Bildausschnitt alles klar und deutlich zu erkennen war, ging ein Raunen durch den kleinen Raum.
Nicole Taylor hatte ihnen eine Nachricht hinterlassen.
Die Kerben waren nicht zufällig entstanden.
»Mein Gott«, rief Jessica. Ihr erster Adrenalinstoß als Ermittlerin der Mordkommission rauschte in ihren Ohren.
Bevor Nicole Taylor starb, hatte sie die Fingernägel der rechten Hand benutzt, um ein Wort in ihre linke Hand zu ritzen, eine Anklage eines sterbenden Mädchens in den letzten verzweifelten Augenblicken seines Lebens. Es bestand kein Zweifel. Es waren die Buchstaben P A R .
Byrne klappte sein Handy auf und rief Ike Buchanan an. Zwanzig Minuten später hatten sie einen Antrag geschrieben, in dem sie ihre Verdachtsmomente erläuterten, und dem Chef der Mordkommission im Büro des Bezirksstaatsanwalts vorgelegt. Mit etwas Glück würde ihnen binnen einer Stunde ein Durchsuchungsbeschluss für das Haus von Brian Allan Parkhurst vorliegen.
27.
Dienstag, 18.30 Uhr
S imon Close saß stolz vor seinem Apple Notebook und starrte auf die Titelseite des Report .
WER TÖTET DIE MÄDCHEN MIT
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