Byrne & Balzano 1: Crucifix
auf die aktuelle Bücherliste für Kleinkinder. Bunny auf der Flucht. Du bist der Boss, Baby Duck. Der neugierige George.
Jessica setzte sich aufs Bett und schaute sich die Buchrücken an. Die meisten Bücher waren für Kinder bis zwei Jahre. Sophie war fast drei. Für Bunny auf der Flucht war sie schon zu groß. Mein Gott, dachte Jessica, die Zeit vergeht wirklich wie im Fluge.
Ganz unten in der Kiste lag das Buch Wie ziehe ich mich an , ein Leitfaden für Kleinkinder, die das selbstständige Anziehen erlernen sollten. Sophie konnte sich sehr gut allein anziehen, seit Monaten schon. Es war lange her, dass sie den linken und rechten Schuh verwechselt oder ihren OshKosh-Overall auf links angezogen hatte.
Jessica entschied sich für Yertle, die Schildkröte von Dr. Seuss. Dieses Buch gehörte zu Sophies und Jessicas Lieblingsbüchern.
Jessica begann zu lesen und berichtete von den Abenteuern und Erfahrungen Yertles und der Bande auf der Insel Sala-ma-Sond. Nach ein paar Seiten glitt ihr Blick zu Sophie, und sie erwartete ein fröhliches Lächeln. Yertle war normalerweise ein Garant für regelrechte Lachsalven. Besonders die Szene, als er König des Schlammreiches wurde.
Aber Sophie schlief schon tief und fest.
Das war eine leichte Geburt , dachte Jessica lächelnd.
Sie schaltete den Dimmer auf die kleinste Stufe, deckte Sophie richtig zu und legte das Buch zurück in die Kiste.
Jessica dachte an Tessa Wells und Nicole Taylor. Wie sollte es auch anders sein. Sie hatte das Gefühl, dass diese beiden Mädchen in nächster Zeit häufig durch ihren Kopf geistern würden.
Hatten ihre Mütter auch auf dem Bettrand gesessen und über die Makellosigkeit ihrer Töchter gestaunt? Hatten sie ihre Kinder im Schlaf betrachtet und Gott für jeden Atemzug gedankt?
Natürlich.
Jessica schaute auf den mit Herzen und Schleifen verzierten Bilderrahmen auf Sophies Nachttisch, die »Unvergesslichen Momente« mit den sechs Bildern. Vincent und Sophie am Strand, als Sophie gerade ein Jahr alt war. Sophie trug einen orangefarbenen Schlapphut und eine Sonnenbrille. Ihre stämmigen, kurzen Beine waren mit nassem Sand bedeckt. Auf einem Foto waren Jessica und Sophie auf dem Hof abgebildet. Sophie hielt den einzigen Rettich in der Hand, der sich damals in ihrem kleinen Gewächshaus prächtig entwickelt hatte. Sophie hatte den Samen gesät, die Pflanze gewässert und ihre Frucht geerntet. Sie bestand darauf, den Rettich zu essen, obwohl Vincent sie warnte, dass er ihr nicht schmecken würde. Da sie ein mutiges Mädchen und dickköpfig wie ein kleiner Maulesel war, probierte Sophie den Rettich und bemühte sich, das Gesicht nicht zu verziehen. Schließlich zog sie eine furchtbare Fratze und spuckte den scharfen Rettich in ein Papiertaschentuch. Dieses Erlebnis markierte das Ende ihres Interesses für die Landwirtschaft.
Das Foto in der unteren rechten Ecke zeigte Jessicas Mutter mit ihrer kleinen Tochter auf den Knien, als Jessica selbst noch ein Kleinkind war. Maria Giovanni sah in dem gelben Sommerkleid klasse aus. Ihre Mutter und Sophie sahen sich sehr ähnlich. Jessica hätte es gefallen, wenn Sophie ihre Großmutter kennen gelernt hätte. Doch Maria war selbst für Jessica nur noch eine verschwommene Erinnerung, wie ein durch Glasziegel betrachtetes Bild.
Jessica schaltete das Licht im Kinderzimmer aus und blieb in der Dunkelheit sitzen.
Seit zwei Tagen war sie nun bei der Mordkommission, und es kam ihr so vor, als wären Monate vergangen. Seitdem sie bei der Polizei arbeitete, hatte sie sich – wie viele andere Kollegen auch – ein bestimmtes Bild von den Detectives gemacht: Sie mussten nur einen einzigen Job machen. Die Polizisten der anderen Dezernate hatten es mit einem viel breiteren Spektrum unterschiedlicher Verbrechen zu tun. Unter den Kollegen hieß es, ein Mord sei nur ein besonders schwerer Angriff, der außer Kontrolle geraten war.
O Mann, hatte sie sich geirrt.
Dieser eine Job war wahrlich hart genug.
Wie so oft in den letzten drei Jahren fragte Jessica sich, ob es Sophie gegenüber fair war, dass sie Polizistin geworden war und ihr Leben jeden Tag aufs Spiel setzte, wenn sie das Haus verließ. Sie hatte keine Antwort darauf
Jessica stieg die Treppe hinunter und überprüfte zum dritten Mal, ob die Eingangs- und die Hintertür verschlossen waren. Oder war es das vierte Mal?
Am Mittwoch hatte sie frei, wusste bis jetzt aber nicht, was sie mit dem freien Tag anfangen sollte. Wie sollte es ihr in dieser Situation
Weitere Kostenlose Bücher