Byrne & Balzano 3: Lunatic
Augenblick fiel ihr der Fleck neben dem Saum des Kleides auf, der wie Blut aussah. Ein einziger dicker Blutstropfen. Jessica hockte sich hin, nahm ihren Kugelschreiber heraus und hob den Saum des Kleides an. Was sie sah, nahm ihr den Atem.
»O Gott!«
Jessica kippte hintenüber und wäre beinahe in den Fluss gestürzt. Sie klammerte sich am Boden fest, fand Halt und richtete sich mühsam auf.
Byrne und Calabro, die ihren Schrei gehört hatten, rannten herbei.
»Was ist?«, fragte Byrne.
Jessica wollte es ihm sagen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie hatte in ihrem Job schon viel Grauenhaftes gesehen und glaubte, so leicht könne sie nichts mehr erschüttern – und normalerweise war sie auf fast jeden Schrecken vorbereitet, wenn sie es mit einem neuen Mordfall zu tun bekam. Der Anblick dieser toten jungen Frau, deren Fleisch bereits verweste, war schlimm genug. Doch was Jessica gesehen hatte, als sie das Kleid des Opfers anhob ...
»Was hast du denn?«, fragte Byrne.
Es dauerte einen Moment, bis Jessica sich gefasst hatte. Dann beugte sie sich vor und hob den Saum des Kleides noch einmal hoch. Byrne hockte sich auf die Erde und verdrehte den Kopf. Er wandte den Blick sofort wieder ab. »Scheiße«, sagte er und stand auf. »Scheiße.«
Die Frau war nicht nur stranguliert und an einem eisigen Flussufer gleichsam deponiert worden – man hatte ihr die Füße amputiert. Und allem Anschein nach war dies erst kürzlich geschehen: Eine präzise chirurgische Amputation, genau über den Knöcheln. Die Wunden waren brutal ausgebrannt worden; die bleichen, erfrorenen Beine des Opfers waren bis zur Mitte geschwärzt.
Jessica schaute auf das eisige Wasser unterhalb des Opfers und dann ein paar Meter flussabwärts. Es waren keine Leichenteile zu sehen. Sie hob den Blick und schaute Mike Calabro an: Der Streifenpolizist schob die Hände in die Taschen und ging langsam zurück zum Eingang des Tatorts. Er war kein Detective. Er musste nicht bei der Leiche bleiben. Jessica glaubte Tränen in Calabros Augen gesehen zu haben.
»Ich will mal versuchen, der Gerichtsmedizin und der Spurensicherung ein bisschen Dampf zu machen«, sagte Byrne. Er zog sein Handy aus der Tasche und trat ein paar Schritte zur Seite. Jessica wusste, dass mit jeder Sekunde, die verstrich, wertvolle Spuren verloren gehen konnten.
Sie schaute sich den Gegenstand, den der Täter offenbar als Mordwaffe benutzt hatte, genauer an. Der Gürtel, der um den Hals des Opfers geschlungen war, war sieben bis acht Zentimeter breit. Er schien aus dicht gewebtem Nylon zu bestehen, ähnlich dem Material, aus dem Sicherheitsgurte hergestellt wurden. Jessica machte eine Nahaufnahme des Knotens.
Eine eisige Windbö fegte über sie hinweg. Sie schlang die Arme um ihren Körper und verharrte einen Augenblick regungslos. Ehe sie sich abwandte, zwang sie sich, die Beine der Frau noch einmal aus der Nähe zu betrachten. Die Schnitte sahen sauber aus, als wären sie mit einer sehr scharfen Säge ausgeführt worden. Jessica konnte nur hoffen, dass die Amputation nach Eintritt des Todes erfolgt war. Sie hob den Blick zum Gesicht der Toten. Sie waren nun miteinander verbunden, sie und die ermordete Frau. Jessica hatte schon in vielen Mordfällen ermittelt, doch sie war mit jedem Opfer für alle Zeit verbunden. Niemals würde sie vergessen, was der Tod aus diesen Menschen gemacht hatte und wie sie stumm darum baten, ihnen möge Gerechtigkeit widerfahren.
Kurz nach neun traf Dr. Thomas Weyrich mit dem Fotografen ein, der umgehend seine Aufnahmen machte. Ein paar Minuten später gab Weyrich den Leichnam frei, und die Detectives konnten mit ihren Ermittlungen beginnen. Sie versammelten sich oben auf der Böschung.
»Meine Güte«, sagte Weyrich. »Eine schöne Bescherung.«
»Ja«, sagte Byrne. »Allerdings.«
Weyrich steckte sich eine Marlboro an und nahm einen kräftigen Zug. Er war ein erfahrener Mann, der schon seit vielen Jahren in der Gerichtsmedizin des Philadelphia Police Departments arbeitete. Doch selbst für ihn war dies kein alltäglicher Fall.
»Wurde sie erdrosselt?«, fragte Jessica.
»Das mit Sicherheit auch«, erwiderte Weyrich. Er würde den Nylongürtel erst abnehmen, wenn der Leichnam in die Gerichtsmedizin gebracht worden war. »Es gibt Anzeichen von winzigen Einblutungen in den Augen. Aber ich kann erst mehr dazu sagen, wenn sie bei mir auf dem Tisch liegt.«
»Wie lange sitzt sie schon hier?«, wollte Byrne wissen.
»Ich würde sagen,
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