Byrne & Balzano 3: Lunatic
für die Opfer und Familien sehr persönlich und bedeutsam, und ein Detective musste sich dies immerzu ins Gedächtnis rufen. Sobald man in seinem Job Selbstgefälligkeit an den Tag legte und versäumte, den Kummer und Schmerz eines Menschen zu respektieren, war es Zeit, den Krempel hinzuschmeißen.
Die Mordkommission hatte ihren Sitz im so genannten Roundhouse, dem Verwaltungsgebäude des Philadelphia Police Departments an der Ecke Achte und Race Street. Die Mordkommission belegte einen großen Teil des Erdgeschosses. Achtzig Detectives arbeiteten hier in drei Schichten an sieben Tagen die Woche. In Philly gab es mehr als hundert Stadtviertel, doch je nach dem Fundort des Opfers konnte ein erfahrener Detective oftmals die Umstände des Todes, das Motiv und manchmal sogar die Mordwaffe erschließen. Enthüllungen gab es immer, aber nur wenige Überraschungen.
An diesem Tag war alles anders. Sie hatten es mit einer unvorstellbar brutalen Tat zu tun. Menschenverachtend und abscheulich. So etwas hatten Jessica und Byrne kaum jemals erlebt.
Auf dem unbebauten Grundstück gegenüber der Straße am Tatort parkte ein Lebensmittel-Verkaufswagen. Es stand nur ein Kunde dort. Die beiden Detectives überquerten die Flat Rock Road und zückten ihre Notizblöcke. Während Byrne den Fahrer befragte, sprach Jessica mit dem Kunden, ein Mann Mitte zwanzig in Jeans, Kapuzensweatshirt und schwarzer Wollmütze.
Jessica stellte sich vor und zeigte ihm ihre Dienstmarke. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Kein Problem.« Der Mann zog die Mütze ab, worauf das dunkle Haar in seine Augen fiel. Er strich es zur Seite.
»Wie heißen Sie, bitte?«
»Will«, sagte er. »Will Pedersen.«
»Wo wohnen Sie?«
»Plymouth Valley.«
»Wow«, sagte Jessica. »Das liegt nicht gerade um die Ecke.«
Er zuckte mit den Schultern. »Man muss sehen, wo man Arbeit findet.«
»Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Maurer.« Er zeigte über Jessicas Schulter auf eine neue Eigentumswohnanlage, die ungefähr einen Block entfernt am Fluss gebaut wurde. Kurz darauf war Byrne mit dem Verhör des Fahrers fertig und kam herüber. Jessica stellte ihm Pedersen vor und fuhr mit der Befragung fort.
»Arbeiten Sie oft hier?«
»Fast jeden Tag«, sagte Pedersen.
»Waren Sie gestern auch hier?«
»Nein. Es war zu kalt, um den Beton anzumischen. Der Chef hat früh angerufen und gesagt, wir sollten wieder einpacken.«
»Und wie sieht es mit vorgestern aus?«, fragte Byrne.
»Da waren wir hier.«
»Haben Sie sich um diese Zeit Ihren Kaffee geholt?«
»Nein«, sagte Pedersen. »Es war früher. Vielleicht sieben Uhr oder so.«
Byrne zeigte auf das Grundstück. »Haben Sie auf dem Parkplatz jemanden gesehen?«
Pedersen blickte über die Straße und dachte kurz nach. »Ja. Ich hab jemanden gesehen.«
»Wo?«
»Ganz hinten auf dem Parkplatz.«
»Mann oder Frau?«
»Einen Mann, glaube ich. Es war noch ziemlich dunkel.«
»Da stand nur die eine Person?«
»Ja.«
»Haben Sie einen Wagen gesehen?«
»Nein. Keinen Wagen«, sagte er. »Mir ist jedenfalls keiner aufgefallen.«
Die beiden Fahrzeuge ohne Nummernschilder standen hinter dem Gebäude. Sie waren von der Straße aus nicht zu sehen. Dort hätte auch ein drittes Fahrzeug stehen können.
»Wo stand der Mann genau?«, fragte Byrne.
Pedersen zeigte auf einen Punkt am Ende des Platzes, genau oberhalb der Stelle, wo das Opfer gefunden worden war. »Rechts von den Bäumen da.«
»Näher am Fluss oder näher am Gebäude?«
»Näher am Fluss.«
»Können Sie die Person beschreiben, die Sie gesehen haben?«
»Eigentlich nicht. Wie gesagt, es war noch ziemlich dunkel, und ich konnte nicht viel erkennen. Und ich hatte meine Brille nicht auf.«
»Wo genau standen Sie, als Sie den Mann bemerkt haben?«, fragte Jessica.
Pedersen zeigte auf einen Punkt ungefähr zwei, drei Meter entfernt.
»Sind Sie näher herangegangen?«
»Nein.«
Jessica schaute zum Fluss. Man konnte das Opfer von dieser Stelle aus nicht sehen. »Wie lange haben Sie hier gestanden?«
Pedersen zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Eine, zwei Minuten. Ich hab mir mein Teilchen und meinen Kaffee geholt und bin dann zurück zur Baustelle, um anzufangen.«
»Was hat diese Person gemacht?«, fragte Byrne.
»Eigentlich gar nichts.«
»Der Mann hat sich nicht von der Stelle gerührt? Er ist nicht zum Fluss hinuntergegangen?«
»Nein. Aber wenn ich genau darüber nachdenke ... er hat sich ein bisschen seltsam
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