Byrne & Balzano 3: Lunatic
mindestens achtundvierzig Stunden, vielleicht länger.«
»Und ihre Füße? Wurden sie vor oder nach Eintritt des Todes amputiert?«
»Das weiß ich erst, wenn ich die Wunden untersucht habe, aber nach dem wenigen Blut am Fundort zu urteilen, würde ich sagen, dass die Amputation post mortem vorgenommen wurde, und wahrscheinlich auch nicht hier. Hätte die Frau noch gelebt, müsste sie festgebunden worden sein, und ich sehe keine Druckstellen an den Beinen.«
Jessica ging zurück ans Ufer. Auf dem gefrorenen Boden waren keine Fußabdrücke oder Blutspuren zu sehen. Ein paar dünne Blutstropfen von den Beinen des Opfers waren an die bemooste Steinmauer gespritzt und sahen wie zwei dünne, dunkelrote Ranken aus. Jessica warf einen Blick über den Fluss. Der Anlegesteg war vom Expressway aus teilweise verdeckt, was erklären könnte, warum niemand gemeldet hatte, dass eine Frau seit zwei Tagen regungslos am gefrorenen Flussufer saß. Das Opfer war nicht bemerkt worden – zumindest wollte Jessica das glauben. Die Vorstellung, dass die Menschen in ihrer Stadt eine Frau in der eisigen Kälte hatten sitzen sehen, ohne etwas zu unternehmen, ließ sie schaudern.
Sie mussten so schnell wie möglich die Identität der Frau in Erfahrung bringen. Sie würden den Parkplatz, das Flussufer und das Gelände rings um das Gebäude durchkämmen und eine gründliche Überprüfung der Läden in der Nähe sowie der Wohnhäuser auf beiden Seiten des Flusses vornehmen. Doch bei einem offenbar sorgfältig ausgewählten Tatort wie diesem war es unwahrscheinlich, dass der Täter die Handtasche mit den Papieren des Opfers hier irgendwo achtlos hingeworfen hatte.
Jessica kauerte sich hinter die Ermordete. Die Körperhaltung der Toten erinnerte sie an eine Marionette, deren Fäden durchgeschnitten worden waren, sodass die Puppe zu Boden gesunken war, und als warteten Arme und Beine nun darauf, wieder mit den Fäden verbunden zu werden, damit die Marionette zu neuem Leben erweckt werden konnte.
Jessica betrachtete die Fingernägel der Toten. Sie waren kurz, sauber und mit einem Klarlack überzogen. Die Gerichtsmedizin würde sorgfältig untersuchen, ob unter den Fingernägeln irgendwelches Material haftete, doch mit dem bloßen Auge sah es nicht so aus. Die Fingernägel deuteten jedenfalls darauf hin, dass die Frau nicht obdachlos oder mittellos gewesen war. Ihre Haut und ihr Haar wirkten sauber und gepflegt.
Das wiederum bedeutete, dass diese Frau jetzt irgendwo hätte sein müssen. Bei ihrer Familie. Bei Freunden. Bei Kollegen. Es bedeutete, dass sie vermisst wurde. Es bedeutete, dass es irgendwo in Philadelphia oder einer anderen Stadt ein Puzzle gab, dessen letztes fehlendes Teil diese Frau war.
Mutter. Tochter. Schwester. Freundin.
Opfer.
5.
D er Wind weht vom Fluss herüber, fegt über die gefrorenen Böschungen und bringt die tiefen Geheimnisse des Waldes mit sich. Moon prägt sich diesen Augenblick ein, um sich stets daran zu erinnern. Er weiß, dass am Ende nur die Erinnerung bleibt.
Moon steht in der Nähe und beobachtet den Mann und die Frau. Sie forschen nach, sie stellen Vermutungen an, sie machen sich Notizen. Der Mann ist groß und kräftig. Die Frau ist schlank und hübsch und clever.
Moon ist ebenfalls clever.
Der Mann und die Frau mögen viel zu sehen bekommen, doch sie können nicht sehen, was der Mond sieht. Jeden Abend geht er aufs Neue auf und erzählt Moon von seinen Reisen. Jede Nacht malt Moon ein Bild nach seinen Vorstellungen. Jede Nacht wird eine neue Geschichte erzählt.
Moon hebt den Blick zum Himmel. Die kalte Sonne versteckt sich hinter den Wolken.
Auch Moon ist unsichtbar.
Der Mann und die Frau tun ihre Arbeit, schnell und präzise. Sie haben Karen gefunden. Bald werden sie die roten Schuhe finden, und dann ist dieses Märchen erzählt.
Es gibt noch viele andere Märchen.
6.
W enige Schritte voneinander entfernt, standen Jessica und Byrne in der Nähe der Straße und warteten auf den Van der Spurensicherung. Sie dachten beide über das nach, was sie soeben gesehen hatten. Detective Bontrager bewachte noch immer pflichtgetreu den Nordeingang des Grundstücks. Mike Calabro stand mit dem Rücken zum Opfer in der Nähe des Flusses.
Das Leben eines Detectives der Mordkommission in einer Großstadt bestand größtenteils aus Ermittlungen in ganz gewöhnlichen Mordfällen – Bandenkriege, Raubmorde, Streitereien in Wohnungen und Kneipen, die aus dem Ruder liefen. Natürlich waren diese Verbrechen
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