Byrne & Balzano 3: Lunatic
Berufsleben Hafenarbeiter gewesen. Byrne verdankte seine Kindheit, seine Erziehung, sein ganzes Leben dem Wasser. Er hatte in der Grundschule gelernt, dass Schuylkill »verborgener Fluss« bedeutete. In all den Jahren, die Kevin Byrne schon in Philadelphia lebte – abgesehen vom Militärdienst, sein ganzes bisheriges Leben –, hatte er den Fluss stets als ein großes Rätsel betrachtet. Er war über hundert Meilen lang, und Byrne wusste nicht einmal, wohin er führte. Von den Ölraffinerien im Südwesten von Philly nach Shawmont und darüber hinaus hatte sein Job als Polizist ihn an diese Ufer geführt, doch er war ihm niemals über die Grenzen seiner Zuständigkeit hinaus gefolgt – eine Amtsgewalt, die dort endete, wo die Montgomery County auf die Philadelphia County folgte.
Byrne starrte auf das dunkle Wasser und sah dort das Gesicht von Anton Krotz. Er sah Krotz’ Augen.
Schön, dich zu sehen, Detective.
In den vergangenen Tagen hatte Byrne sein Verhalten vermutlich tausendmal kritisch unter die Lupe genommen. Hatte er aus Angst gezögert? War er verantwortlich für Laura Clarkes Tod? Byrne wusste, dass er seit ungefähr einem Jahr sein Verhalten mehr als je zuvor hinterfragte und dass er ein gewisses Zögern in seinen Entscheidungen bemerkt hatte. Als junger, draufgängerischer Streifenpolizist hatte er gewusst, tatsächlich gewusst , dass jede Entscheidung, die er traf, richtig war.
Er schloss die Augen.
Gut, dass die Visionen verschwunden waren. Zum größten Teil jedenfalls. Jahrelang hatte ihm eine Art zweiten Gesichts zu schaffen gemacht, die Fähigkeit, an einem Tatort mitunter Dinge zu sehen, die kein anderer sehen konnte. Diese Fähigkeit, Segen und Qual zugleich, war Byrne zuteil geworden, nachdem er vor vielen Jahren in den eisigen Delaware River gestürzt und für tot erklärt worden war. Mit einem Mal war diese seltsame Fähigkeit da gewesen. Die Visionen waren mit migräneartigen Kopfschmerzen verbunden gewesen – bis ein Psychopath ihm eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Danach hatten die Kopfschmerzen verrückterweise aufgehört. Byrne hatte geglaubt, die Visionen wären ebenfalls verschwunden, doch hin und wieder kehrten sie mit unglaublicher Wucht und Klarheit zurück, manchmal nur für den Bruchteil einer Sekunde. Byrne hatte gelernt, dies zu akzeptieren. Manchmal war es nur ein flüchtiger Blick auf ein Gesicht, die Andeutung eines Tons oder ein gewelltes Bild wie in einem Zerrspiegel auf einem Rummelplatz.
Inzwischen hatte er diese Vorahnungen nicht mehr so häufig, und das war gut so. Doch Byrne wusste, dass sie jederzeit wieder auftreten konnten. Manchmal brauchte er nur eine Hand auf die eines Opfers zu legen oder an einem Tatort irgendetwas zu berühren – schon rollte die schwarze Woge heran, schon besaß er das furchtbare Wissen, das ihn in die bizarren, düsteren Winkel eines kranken Verstandes führte.
Woher hatte Natalya Jakos das gewusst?
Als Byrne die Augen aufschlug, war Anton Krotz’ Gesicht verschwunden. Jetzt sah er ein anderes Augenpaar. Byrne dachte an den Mann, der Kristina Jakos an diesen Ort gebracht hatte ... an den Irrsinn, der jemanden zwang, das zu tun, was dieser Mann getan hatte. Byrne trat an den Rand des Stegs, genau an die Stelle, wo sie Kristinas Leichnam gefunden hatten. Das Wissen, genau dort zu stehen, wo der Killer wenige Tage zuvor gestanden hatte, erfüllte Byrne mit Furcht und Entsetzen.
Und dann spürte er, dass die Bilder in sein Bewusstsein sickerten. Er sah den Mann ...
... der die Haut, das Fleisch und die Knochen durchschnitt ... die Wunden mit einer Lötlampe ausbrannte ... der Kristina Jakos das seltsame Kleid anzog ... der erst einen Arm durch den Ärmel zog, dann den anderen, als würde jemand ein schlafendes Kind anziehen, ohne dass das kalte Fleisch auf seine Berührung reagierte ... er trug Kristina Jakos im Schutz der Dunkelheit zum Flussufer hinunter ... er hatte sein irres Szenarium gerade arrangiert, als er ...
... etwas hörte.
Schritte?
Byrne sah aus dem Augenwinkel einen Schatten, nur wenige Schritte entfernt, eine große schwarze Gestalt, die aus der Dunkelheit trat.
Während der Puls in seinen Ohren pochte und eine Hand auf seiner Waffe lag, drehte er sich zu der Gestalt um.
Da war niemand.
Byrne seufzte. Er brauchte dringend Schlaf.
Er fuhr in seine kleine Wohnung in South Philly.
Ich glaube, Kristina wäre gerne Tänzerin geworden.
Byrne dachte an seine Tochter Colleen. Sie war von Geburt an gehörlos,
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