Byrne & Balzano 3: Lunatic
war sechs Jahre jünger als Roland, außergewöhnlich kräftig und ungemein treu. Mehr als einmal hatte er bewiesen, dass er für Roland sterben würde.
Anstatt seinen Stiefbruder nun zum tausendsten Mal zu ermahnen, fuhr Roland fort. Es brachte nichts, Charles zu rügen; außerdem war er schnell verletzt.
»Du bist entweder eine Ratte oder eine Katze«, sagte Roland. »Sonst gibt es nichts.«
»Stimmt«, pflichtete Charles ihm bei. Das tat er immer. »Sonst nichts.«
»Erinnere mich daran, mir das aufzuschreiben.«
Charles nickte und dachte über diese Erkenntnis nach, als hätte Roland soeben den Stein von Rosetta entschlüsselt.
Sie fuhren auf der Route 299 Richtung Süden und näherten sich dem Millington-Wildreservat in Maryland. In Philadelphia war es bitterkalt gewesen, doch hier war der Winter ein bisschen milder. Das war gut. Dann war der Boden nicht so hart gefroren.
Während diese Feststellung für die beiden Männer vorn im Lieferwagen erfreulich war, war es vermutlich die schlimmste Nachricht für den Mann, der bäuchlings auf der Ladefläche lag und dessen Tag gar nicht so gut begonnen hatte.
Roland Hannah war ein großer Mann mit geschmeidigen Muskeln, der sich stets gut auszudrücken verstand, obwohl er niemals eine höhere Ausbildung genossen hatte. Er trug keinen Schmuck, schnitt sein Haar immer kurz, hielt seinen Körper sauber und trug einfache, sorgfältig gebügelte Kleidung. Er stammte aus den Appalachen, das Kind einer Mutter aus Letcher County, Kentucky, und eines Vaters, dessen Abstammung und kriminelle Vergangenheit bis zu den Höhlen von Helvetia Mountain zurückverfolgt werden konnten. Als Roland vier Jahre alt war, hatte seine Mutter ihren Mann verlassen – Jubal Hannah, einen brutalen, gewalttätigen Schläger, der seine Frau und sein Kind oft mit einem Riemen ausgepeitscht hatte. Sie war mit ihrem Sohn nach Nord-Philadelphia gezogen, in eine Gegend, die spöttisch, aber durchaus zutreffend als die Badlands bezeichnet wurde.
Ein Jahr später heiratete Artemisia Hannah einen Mann, der noch viel schlimmer war als ihr erster Gemahl, einen Mann, der jeden Bereich ihres Lebens kontrollierte und mit dem sie zwei Kinder bekam, die geistig zurückgeblieben waren. Als Walton Lee Waite bei einem stümperhaften Einbruch in Northern Liberties getötet wurde, griff Artemisia – eine Frau von labiler psychischer Verfassung, die die Welt durch den Schleier beginnenden Irrsinns betrachtete – zur Flasche. Bald sank sie immer tiefer in den Sumpf. Als Roland zwölf Jahre alt war, sorgte er für die Familie. Er übernahm Gelegenheitsjobs jeder Art, von denen viele krimineller Natur waren, und ging der Polizei, dem Jugendamt und den Straßengangs aus dem Weg. Irgendwie überlebte er sie alle. Mit fünfzehn beschritt Roland Hannah einen neuen Weg, obwohl es nicht seine eigene Entscheidung gewesen war.
Der Mann, den Roland und Charles nun aus Philadelphia hierher gebracht hatten, hieß Basil Spencer. Er hatte ein junges Mädchen missbraucht.
Spencer war vierundvierzig, stark übergewichtig und sehr gebildet – ein auf Erbrecht spezialisierter Anwalt aus Bala Cynwyd mit einer Mandantenliste, auf der größtenteils ältere, wohlhabende Witwen aus den vornehmen Vororten von Philadelphia standen. Spencer hatte eine Vorliebe für junge Mädchen und frönte dieser Lust schon seit Jahren. Roland wusste nicht, wie oft Spencer diese gottlosen, schändlichen Taten verübt hatte, doch das spielte keine Rolle. An diesem Tag und zu diesem Zeitpunkt trafen sie sich im Namen eines ganz bestimmten unschuldigen Wesens.
Um neun Uhr an diesem Morgen durchbrach die Sonne die Wipfel der Bäume. Spencer kniete vor einem frisch ausgehobenen Grab, einem Loch, ungefähr einen Meter zwanzig tief, einen knappen Meter breit und zwei Meter lang. Seine Hände waren ihm mit einer dicken Schnur auf dem Rücken gefesselt. Trotz der Kälte war seine Kleidung schweißdurchtränkt.
»Wissen Sie, wer ich bin, Mr. Spencer?«, fragte Roland.
Spencer hob den Blick, schaute sich um und dachte angestrengt über seine Antwort nach. Tatsächlich wusste er nicht genau , wer Roland war. Er hatte ihn nie zuvor gesehen, bis man ihm vor einer halben Stunde die Augen verbunden hatte. Schließlich sagte Spencer: »Nein.«
»Ich bin der andere Schatten«, sagte Roland. Seine Aussprache wies einen beinahe unmerklichen Kentucky-Akzent auf – der Staat, aus dem seine Mutter stammte –, obwohl er den Akzent schon vor langer Zeit auf den
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