Byrne & Balzano 3: Lunatic
absichtlich hier deponiert.
Innerhalb einer Stunde lag ihnen der vorläufige Bericht vor. Es war für niemanden eine Überraschung, dass die gefundenen Leichenteile den ersten Blutuntersuchungen zufolge mit höchster Wahrscheinlichkeit zu Kristina Jakos gehörten.
Bei jeder Mordermittlung gibt es einen Zeitpunkt – sofern sich bei den Ermittlungen kein Killer mit bluttriefendem Messer oder rauchender Waffe in der Hand über den Leichnam beugt –, da alles zum Stillstand kommt. Es kommen keine Anrufe herein, keine Zeugen melden sich, die Ergebnisse der Kriminaltechnik verzögern sich. Nun war so ein Moment gekommen. Vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass Heiligabend war. Niemand hatte Lust, über den Tod nachzudenken. Die Detectives blickten gelangweilt auf die Monitore und pochten mit ihren Stiften zu einem unhörbaren Rhythmus auf die Schreibtische, auf denen die Tatortfotos lagen, von denen die Toten sie anstarrten: anklagend, fragend, erwartungsvoll, wartend.
Es würde rund achtundvierzig Stunden dauern, bis sie eine effektive stichprobenartige Befragung jener Personen vornehmen konnten, die die Strawberry Mansion Bridge ungefähr zu der Zeit befahren hatten, als die Leichenteile dort abgelegt worden waren. Am nächsten Tag war Weihnachten; dann waren weniger – und andere – Autofahrer unterwegs.
Jessica packte im Roundhouse ihre Sachen zusammen. Sie sah, dass Josh noch arbeitete. Er saß vor einem Computer und scrollte durch Verhaftungsprotokolle.
»Was hast du für Pläne, Josh?«, fragte Byrne.
Bontrager schaute vom Monitor auf. »Ich fahre heute Abend nach Hause«, sagte er. »Morgen habe ich Dienst. Ich bin der Neue und muss dran glauben.«
»Wenn du mir die Frage erlaubst, was machen Amische zu Weihnachten?«
»Das hängt von der Gruppe ab.«
»Von welcher Gruppe?«, fragte Byrne. »Gibt es verschiedene Amisch-Gruppen?«
»Ja, sicher. Es gibt Amische alter Ordnung, Amische neuer Ordnung, die Mennoniten, Beachy Amische, Schweizer Mennoniten, Swartzentruber Amische und noch andere.«
»Feiern sie Weichnachten?«
»Wir stellen keine Kerzen auf, aber wir feiern. Wir haben viel Spaß«, erklärte Bontrager. »Und wir haben einen zweiten Weihnachtstag.«
»Einen zweiten Weihnachtstag?«, fragte Byrne.
»Ja, das ist der Tag nach Weihnachten. Normalerweise werden dann Nachbarn besucht, und es wird ’ne Menge gegessen. Manchmal gibt es sogar Glühwein.«
Jessica lächelte. »Glühwein. Das wusste ich nicht.«
Bontrager errötete. »Irgendwie muss man ja dafür sorgen, dass sie auf der Farm bleiben, nicht wahr?«
Nachdem Jessica den unglücklichen Kollegen, die die nächste Schicht hatten, frohe Festtage gewünscht hatte, drehte sie sich an der Tür noch einmal um.
Josh Bontrager saß an seinem Schreibtisch und schaute sich die entsetzlichen Fotos der Fundstücke an, die sie heute auf der Strawberry Mansion Bridge gefunden hatten. Jessica hatte den Eindruck, als würden die Hände des jungen Mannes ein wenig zittern.
Willkommen in der Mordkommission.
37.
D ieses Buch ist für Moon das Wertvollste auf der Welt. Es ist groß und schwer, ledergebunden und mit Goldschnitt. Es hatte seinem Großvater gehört und davor dessen Vater. Auf der ersten Seite, auf der auch der Titel stand, hatte der Autor das Buch signiert.
Es ist wertvoller als alles andere.
Manchmal schlägt Moon das Buch spät in der Nacht vorsichtig auf, schaut sich bei Kerzenschein die Wörter und Zeichnungen an und atmet den Duft des alten Papiers ein. Es riecht nach seiner Kindheit. Heute wie damals achtet er darauf, die Kerze nicht zu nahe an das Buch zu stellen. Er erfreut sich immer wieder an dem hübschen Schimmer des Goldschnitts in dem sanften gelben Licht.
Das erste Bild zeigt einen Soldaten mit einem Tornister auf dem Rücken, der auf einen hohen Baum klettert. Wie oft ist Moon dieser Soldat gewesen, der kräftige junge Mann auf der Suche nach der Zunderbüchse?
Auf dem nächsten Bild sind der kleine und der große Klaus abgebildet. Moon ist schon sehr oft in die Rollen der beiden Männer geschlüpft.
Das nächste Bild zeigt die Blume der kleinen Ida. Im Frühling und im Sommer ist Moon früher oft durch die Blumen gelaufen. Frühling und Sommer waren traumhafte Zeiten.
Als er jetzt das große Haus betritt, ist er wieder von Zauber erfüllt.
Das Gebäude, das seine einstige Erhabenheit eingebüßt hat, steht oberhalb des Flusses, eine vergessene Ruine, nicht weit von der Stadt entfernt. Der Wind heult durch
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