Byrne & Balzano 3: Lunatic
Sie sagte etwas, das im Rauschen unterging. Der Mann antwortete ihr.
»Würden Sie das bitte noch einmal abspielen?«, bat Jessica.
Ingrid Fanning spulte das Band zurück und drückte auf Stopp und Play . Byrne stellte den Ton am Monitor lauter. Die Tür öffnete sich wieder. Sekunden später sagte der Mann: »Ich bin Detective Byrne.«
Jessica sah, dass Kevin Byrne die Fäuste ballte und die Lippen zusammenpresste.
Kurz darauf trat der Mann hinaus und schloss die Tür hinter sich. Zwanzig, dreißig Sekunden herrschte bedrückende Stille. Nur die Verkehrsgeräusche und die Musik waren zu hören.
Dann erklang ein Schrei.
Jessicas und Byrnes Blicke wandten sich Ingrid Fanning zu. »Ist sonst noch etwas auf dem Band?«, fragte Jessica.
Ingrid schüttelte den Kopf und tupfte sich die Augen. »Sie sind nicht wieder hereingekommen.«
Jessica und Byrne gingen den Korridor hinunter. Jessica schaute auf die Kamera, die noch immer nach unten gerichtet war. Sie öffneten die Tür und traten hinaus. Hinter dem Geschäft war ein kleiner Platz, kaum zehn Quadratmeter groß, der am Ende von einem Holzzaun begrenzt wurde. In dem Zaun war ein Tor, das auf die Gasse hinter dem Gebäude führte. Byrne rief die Spurensicherung an, damit sie die ganze Gegend unter die Lupe nahm. Sie würden die Kamera nach Fingerabdrücken absuchen.
Jessica versuchte angestrengt, in Gedanken einen Vorfall zu konstruieren, der sich ereignet haben könnte, ohne dass Sa’mantha in der Gewalt dieses Irren gelandet war. Es gelang ihr nicht.
Der Mörder war in diesem Geschäft gewesen.
Vielleicht hatte er ein viktorianisches Kleid gesucht.
Er kannte den Namen des Detectives, der ihn jagte.
Und jetzt hatte er Sa’mantha Fanning in seiner Gewalt.
59.
A nne Lisbeth sitzt in dem Boot und trägt ihr Kleid. Es ist nachtblau. Sie hat aufgegeben und wehrt sich nicht mehr gegen die Fesseln.
Es ist Zeit.
Moon stößt das Boot an, sodass es durch den Tunnel fährt, der zum Hauptkanal führt – dem ØSTTUNNELEN, wie seine Großmutter ihn nannte. Er läuft aus dem Bootshaus heraus, am Elfenhügel und der alten Kirchenglocke vorbei bis zur Schule. Er schaut sich gerne die Boote an.
Bald kommt Anne Lisbeths Boot in Sicht. Es fährt an der Zunderbüchse vorüber und unter der Great Belt Bridge hindurch. Er erinnert sich an die Zeit, als die Boote den ganzen Tag hier fuhren – gelbe und rote, grüne und blaue.
Das Haus des Schneemanns ist jetzt leer.
Bald wird es wieder bewohnt sein.
Moon steht mit dem Strick in der Hand da. Er wartet am Ende des letzten Kanals neben der kleinen Schule und lässt den Blick übers Dorf schweifen. Es gibt sehr viel zu tun, sehr viele Reparaturen durchzuführen. Er wünscht sich, sein Großvater wäre hier. Er erinnert sich an die kalten Vormittage, den Geruch des alten Werkzeugkastens aus Holz, die feuchten Sägespäne. Er erinnert sich an die Melodie von »I Danmark er jeg fodt«, die sein Großvater immer gesummt hat, und an den herrlichen Duft seiner Pfeife.
Anne Lisbeth wird nun ihren Platz auf dem Fluss einnehmen, und sie werden alle kommen. Bald. Aber nicht vor den letzten beiden Geschichten.
Zuerst wird Moon den Schneemann hierher bringen.
Dann wird er seine Prinzessin treffen.
60.
D ie Spurensicherung hatte die Fingerabdrücke des dritten Mordopfers am Tatort genommen und sie mit den Datenbanken abgeglichen. Bisher konnte die kleine Frau, die sie im Südosten gefunden hatten, nicht identifiziert werden. Josh Bontrager durchforstete die Vermisstenmeldungen. Tony Park ließ die Plastikseerose im Labor untersuchen.
Auf dem Unterleib der Frau hatten sie ebenfalls die Zeichnung des »Mondes« gefunden. Mittels DNA-Analysen des Spermas und Blutes, die man an den ersten beiden Opfern entdeckt hatte, konnte die Identität beider Proben nachgewiesen werden. Niemand rechnete jetzt, bei der dritten Ermordeten, mit einem anderen Ergebnis.
Zwei Techniker aus der Dokumentenabteilung waren ausschließlich dafür abgestellt worden, der Mondzeichnung auf die Spur zu kommen.
Das FBI-Büro in Philadelphia war bezüglich der Entführung von Sa’mantha Fanning kontaktiert worden. Die FBI-Leute analysierten das Band und nahmen den Tatort unter die Lupe. Vorerst war dem Philadelphia Police Department der Fall aus der Hand genommen. Jeder rechnete damit, dass aus dem Entführungsfall bald ein Mordfall wurde. Wie immer hofften alle, dass ihre Befürchtung sich nicht bewahrheitete.
»Haben wir die Spur der Märchen weiter
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