Byrne & Balzano 3: Lunatic
Mal, wenn Jessica auflegte, hatte sie das Gefühl, als hätte sich ein riesiger Berg aus Wissen vor ihr aufgetürmt, ohne dass sie die Kraft besaß, diesen Berg zu erklimmen.
Als Jessica aufstand, um sich eine Tasse Kaffee zu holen, klingelte ihr Telefon. Sie meldete sich. »Mordkommission, Balzano.«
»Guten Tag, Detective, mein Name ist Ingrid Fanning.«
Es war die Stimme einer älteren Frau. Jessica kannte den Namen nicht. »Was kann ich für Sie tun, Ma’am?«
»Ich bin die Miteigentümerin von TrueSew. Meine Enkelin hat heute mit Ihnen gesprochen.«
»Ja, stimmt«, sagte Jessica. Die Frau redete von Sa’mantha.
»Ich habe mir die Fotos angesehen, die Sie hier gelassen haben«, sagte Ingrid. »Die Fotos der Kleider.«
»Und?«
»Ich würde sagen, die Kleider stammen aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Vielleicht so um 1875. Auf jeden Fall ist es ein spätviktorianischer Schnitt. Es sind aber keine Originale.«
Jessica schrieb sich die Information auf. »Woher wissen Sie, dass es keine Originale sind?«
»Das hat verschiedene Gründe. Es fehlen eine Reihe von typischen Details. Die Kleider scheinen auch nicht besonders gut gemacht zu sein. Wären es Originale in diesem guten Zustand, könnte man sie für drei- oder viertausend Dollar verkaufen. Glauben Sie mir, diese Kleider würden nicht in einem Secondhand-Laden auf einem Ständer hängen.«
»Die Kleider könnten also der Mode des späten neunzehnten Jahrhunderts nachempfunden sein?«, fragte Jessica.
»Ja, könnte sein. Es gibt viele Gründe, einen alten Look nachzugestalten.«
»Zum Beispiel?«
»Für eine Theateraufführung oder einen Film. Oder es ist ein besonderes Event in einem Museum geplant. Wir bekommen ständig Anrufe von Theatergruppen hier in der Stadt. Sie suchen allerdings nicht solche Kleider, eher Kleidung aus jüngerer Zeit. Heutzutage wird oft nach Mode aus den Fünfziger- oder Sechzigerjahren gefragt.«
»Hatten Sie jemals solche ganz alten Kleider in Ihrem Geschäft?«
»Ein paar Mal. Aber es handelte sich eher um Kostüme als um Mode aus vergangenen Zeiten.«
Jessica erkannte, dass sie möglicherweise an den falschen Orten recherchiert hatte. Sie hätte sich auf das Theater konzentrieren sollen. Okay, dann würde sie jetzt damit anfangen.
»Vielen Dank für Ihren Anruf«, sagte Jessica.
»Gern geschehen«, erwiderte die Frau.
»Und danke auch noch mal an Sa’mantha. Ist sie da?«
»Nein. Als ich kam, war das Geschäft verschlossen, und mein Urenkel lag in seinem kleinen Bett im Büro.«
»Ist doch alles in Ordnung?«
»Bestimmt. Sie ist sicher zur Bank gegangen oder erledigt schnell irgendwas.«
Jessica war erstaunt, dass Sa’mantha ihren kleinen Sohn alleine ließ. Offenbar hatte sie die junge Frau falsch eingeschätzt. Aber im Grunde kannte sie Sa’mantha ja überhaupt nicht. »Nochmals vielen Dank für den Anruf«, sagte sie. »Falls Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte.«
»Mach ich.«
Jessica dachte über die Informationen nach. Ende 19. Jahrhundert. Was war der Grund? War der Mörder von dieser Zeit besessen?
Jessica machte sich Notizen. Sie würde Recherchen über bedeutsame Ereignisse in Philadelphia in dieser Zeit anstellen. Vielleicht war der Psychopath auf irgendein Ereignis fixiert, das sich in dieser Epoche am Schuylkill River zugetragen hatte.
Byrne verbrachte den Spätnachmittag damit, sämtliche Personen zu überprüfen, die mit dem Striplokal Stiletto zu tun hatten, und mochte die Verbindung noch so klein sein – Reinigungspersonal und Lieferanten, Barkeeper, Parkplatzwächter und Türsteher. Auch wenn es sich nicht gerade um die umgänglichsten Zeitgenossen handelte, hatte keiner von ihnen Vorstrafen, die auf eine solch brutale Gewalt hindeuteten, wie der Killer sie an den Tag gelegt hatte.
Byrne ging zu Jessicas Schreibtisch und setzte sich.
»Rate mal, wer von allen eine weiße Weste hat«, sagte Byrne.
»Wer?«
»Alasdair Blackburn«, sagte Byrne. »Im Gegensatz zu seinem Vater hat er keine Vorstrafen. Und ich hab mich gewundert, dass er hier geboren wurde. Chester County.«
Auch Jessica war überrascht. »Ich hatte den Eindruck, dass er aus der alten Heimat kommt. Sein Dialekt klang ziemlich stark durch.«
»Sehe ich auch so.«
»Was hast du vor?«, fragte sie.
»Ich glaube, wir sollten ihm einen Besuch zu Hause abstatten. Vielleicht erfahren wir mehr, wenn er sich nicht in seinem Club aufhält.«
»Okay.« Ehe Jessica sich den Mantel geschnappt
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