Byrne & Balzano 3: Lunatic
Keller eingeschlossen. Sie musste davon ausgehen, dass Nicci verletzt war oder gefangen gehalten wurde.
Vorsichtig näherte Jessica sich der Ecke, zählte im Stillen bis drei und spähte dann ins Wohnzimmer.
Die Decke war über drei Meter hoch, und an der hinteren Wand stand ein großer gemauerter Kamin. Der Boden bestand aus alten Holzdielen. Die Wände, die schon lange Schimmel angesetzt hatten, waren einst weiß getüncht gewesen. In der Mitte des Raumes stand ein Medaillonsofa im viktorianischen Stil, mit verblichenem grünem Samtstoff bezogen. Daneben stand ein kleiner runder Tisch, auf dem ein ledergebundenes Buch lag. Dieser Raum war nicht verstaubt. Dieser Raum wurde noch benutzt.
Als Jessica näher heranging, sah sie eine leichte Vertiefung auf der rechten Seite des Sofas, wo der Beistelltisch stand. Wer immer sich dorthin setzte, kam vielleicht hierher, um in dem Buch zu lesen. Jessica hob den Blick. An der Decke hingen weder Lampen noch Kerzenleuchter.
Jessica überprüfte die Ecken des Raumes. Trotz der Kälte rann ihr der Schweiß über den Rücken. Sie ging zum Kamin und legte eine Hand auf den Sims. Kalt. Doch auf dem Rost lagen die Reste einer Zeitung, die nur zum Teil verbrannt war. Jessica fischte eine Ecke heraus und betrachtete sie. Die Zeitung war vor drei Tagen erschienen. Hier war erst vor kurzem jemand gewesen.
Neben dem Wohnzimmer befand sich ein kleines Schlafzimmer. Jessica spähte hinein. Dort stand ein Doppelbettrahmen mit einer Matratze, einem Bettlaken und einer Bettdecke. Das Bett war ordentlich gemacht. Als Nachtschrank diente ein kleiner Tisch, auf dem ein antiker Männerkamm und eine hübsche Frauenhaarbürste lagen. Jessica schaute unters Bett, näherte sich dann langsam dem Schrank, atmete tief durch und riss die Tür auf.
In dem Schrank hingen zwei Kleidungsstücke: ein dunkler Herrenanzug und ein langes, cremefarbenes Kleid. Beides hing auf roten Samtbügeln und sah aus, als stammte es aus einer anderen Zeit.
Jessica steckte die Waffe ein, ging zurück ins Wohnzimmer und drückte die Türklinke der Eingangstür. Verschlossen. Im Schlüsselloch entdeckte sie Späne, glänzende Metallspäne zwischen dem verrosteten Eisen. Hier war ein Schlüssel benutzt worden. Jetzt sah Jessica auch, warum sie von außen nicht durch die Fenster hatte blicken können: Sie waren mit altem Metzgerpapier bedeckt. Als Jessica die Fenster genauer betrachtete, erkannte sie, dass sie mit Dutzenden verrosteter Schrauben verschlossen waren. Diese Fenster waren seit Jahren nicht geöffnet worden.
Jessica ging über den Dielenboden zur Couch. Das laute Knarren hallte durch den großen Raum. Sie nahm das Buch auf, das auf dem Beistelltisch lag. Ihr stockte der Atem.
Die Geschichten von Hans Christian Andersen.
Die Zeit lief wie in Zeitlupe und blieb stehen.
Es wurde alles erzählt. Alles.
Annemarie und Charlotte. Walt Brigham. Die Morde am Fluss – Lisette Simon, Kristina Jakos, Tara Grendel. Für all diese Morde war eine Person verantwortlich, und Jessica hielt sich im Haus des Mörders auf.
Jessica schlug das Buch auf. Zu jeder Geschichte gehörte ein Bild, und jedes Bild ähnelte vom Stil her den Zeichnungen, die sie auf den Körpern der Leichen gefunden hatten, den Zeichnungen des Mondes aus Sperma und Blut.
Überall im Buch steckten Zeitungsartikel, die als Lesezeichen für verschiedene Geschichten dienten. In einem Artikel, der vor einem Jahr erschienen war, ging es um zwei Männer, die in einer Scheune in Mohrsville, Pennsylvania, tot aufgefunden worden waren. Nach Angaben der Polizei waren sie ertränkt und dann in Juteleinensäcke geschnürt worden. Das Bild zeigte einen Mann mit ausgestreckten Armen, der einen großen und einen kleinen Jungen festhielt.
Der nächste Artikel war vor acht Monaten erschienen. Es war der Bericht über eine ältere Frau, die erdrosselt und auf ihrem Besitz in Shoemakersville in einem Eichenfass gefunden worden war. Das Bild zeigte eine freundliche Frau, die Kuchen, Torte und Plätzchen in den Händen hielt. Die Wörter Tante Millie waren mit unschuldiger Handschrift über die Zeichnung geschmiert worden.
Die nächsten Artikel handelten von vermissten Personen – Männern, Frauen und Kindern – und waren mit schönen Zeichnungen versehen, die allesamt Märchen von Hans Christian Andersen darstellten. Der kleine Klaus und der große Klaus. Tante Zahnweh. Der fliegende Koffer. Die Schneekönigin .
Ganz hinten im Buch steckte ein Artikel aus den Daily
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